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Auf einmal wünschte er sich nichts sehnlicher als zu schlafen.

Er stellte sich vor, wie er, nachdem er in einer Höhle die ferne Explosion und das Erdbeben abgewartet hatte, aus seinem Versteck kröche. Wie er sich die Asche abklopfte …

»Es ist kalt«, flüsterte er.

Die Szene lief erneut ab, in Zeitlupe und Vergrößerung: Eine Wagentür ließ sich erkennen, die geöffnet wurde; knirschende Erdklumpen, vom Wind herangetragen; ein Dämmerhimmel, eine Welt, frei von Hexen, frei von der Mutterhexe …

Wie hatte Atryk Ol das schaffen können? Immerhin hatten ihm keine Atomraketen zur Verfügung gestanden! Wie hatte er es geschafft? Wie nur?!

Klaw, sagte Djunka voller Mitleid. Klaw, du bist krank, etwas mit dem Herzen, glaube ich, Klaw.

Bald werde ich fünfundvierzig, antwortete er finster. Was wunderst du dich da, Djun. Außerdem hatte ich schon früher solche Probleme.

»Womöglich kommt das für Sie einer Beleidigung gleich, aber die Inquisition ist in unserer Welt eben nicht die stärkste Kraft, Klaw.« Das waren die Worte des Herzogs gewesen.

Stimmt, das beleidigte ihn. Er hatte sich immer für den stärksten Inquisitor von allen gehalten. Und so war es ja auch gewesen. Manch einer war ihm in der Kunst des Intrigenschmiedens überlegen, manch einer zeigte größere Talente als Verwalter … Aber an Stärke konnte es niemand mit ihm aufnehmen, das hatten sowohl Foma aus Altyza wie auch Tanas aus Rydna verstanden, ja, sogar der Herzog hatte das verstanden. Klawdi Starsh hatte davon geträumt, an den Ruhm Atryk Ols heranzureichen — doch stattdessen würde er nur auf einen Knopf drücken, ganz wie ein feiger und herzloser Politiker, und den Schlag mit fremden Händen ausführen. Noch dazu einen solchen Schlag! Einen schmutzigen, gemeinen und ehrlosen Schlag!

Und all das nur, weil er seine Chance nicht genutzt hatte. Weil er die rothaarige Frau nicht mit dem Silberdolch erstochen hatte. Weil er sie nicht in dem Verlies eingemauert, sondern ihr erlaubt hatte, ihren Weg zu gehen, weil er ihre Initiation zugelassen hatte. Und alles, was er jetzt tat, stellte lediglich eine Korrektur dieses Fehlers dar …

Fest entschlossen legte er den Daumen auf den Sensor. Eine endlose Sekunde lang geschah nichts, seine Nackenhaare wollten sich bereits sträuben, als endlich das schnöde Wort »Code« im rechteckigen Display aufblinkte.

Der Mond verstand nicht, was hier vor sich ging. Der Mond glotzte nach wie vor finster und böse. Später aber würde der Mond einen Schreck kriegen — danach.

Er gab den Code ein. Nachdem er freigeschaltet worden war, studierte er aufmerksam die Karte und gab die Koordinaten des Dorfes Podralzy ein.

Anschließend warf er einen Blick aufs Zifferblatt und setzte die Zeit fest, wobei er klugerweise bis zur Explosion einen Spielraum von einer Stunde ließ. Sechzig Minuten.

Am Ende starrte er lange und mit leerem Blick auf die rot blinkende Schrift, die ihm mitteilte, sein Befehl werde ausgeführt, sobald er die Identifikation über den Sensor wiederholt und den roten Knopf gedrückt habe.

Diesen roten Knopf drückte er jedoch nicht; stattdessen verstaute er das Kästchen behutsam in der Innentasche seines Jacketts, ließ den Motor an und fuhr leise und sehr langsam weiter — in die Richtung, aus der ihn der Atem der Mutterhexe anwehte. Auf das Dorf Podralzy zu.

Kurz vor Mitternacht erreichte die Prozession ihren feierlichen Höhepunkt. Der Himmel, diese riesige Pauke, dröhnte, jeder dieser triumphalen Trommelschläge federte schwungvoll von dem glänzenden dunkelroten Gewebe zurück. Auf ihrem Weg hatte Ywha eine Niederung entdeckt, ein rundes Tal mit sanften, grasbewachsenen Hängen, einem harten Asphaltboden und einem gigantischen Gebäude in der Mitte. Das Haus hatte ein dunkles Glasdach, in der Nähe brannte ein Feuer aus Autos, die wie Holzscheite aufgeschichtet waren. In dem schrecklichen gelben Feuer tanzten, drehten sich im Kreis, wirbelten wie von einem Strudel erfasst: wilde Pferde, ohne Geschirr.

Der Rhythmus verlangsamte sich, Ywha hielt an.

Ein dumpfes Gewieher. Ungestümes Hufgetrampel, jedoch fern und kaum hörbar. Auffliegende Erdbrocken, der Widerschein eines Feuers. Ywha schloss die Augen. Die Pferde vollführten einen feierlichen Tanz, formierten sich zum Paradezug. Wehende Mähnen, feuchte Rücken, vorquellende Augen …

Ywha trat nach vorn, erlaubte dem Strudel, auch sie fortzutragen. Kaum erfasste er sie, schleuderte er sie auch schon in einer Spirale hoch, riss sie ins Zentrum, ganz in die Mitte, zur Achse der Windhose, die ein Feuerband drehte. Anmutig flatterte es dort oben, ganz auf der Spitze, inmitten der Sterne, und das Feuer amüsierte sich mit einem Haufen Schrott und drei PKWs, die, gerade weil sie es hatten vermeiden wollen, von der Straße abgekommen waren.

Die Pferde drehten sich inzwischen immer langsamer, einige schleppten sich nur noch mit Mühe weiter und ließen den Kopf so hängen, dass ihre hellen Mähnen fast den Boden berührten. Ihr neuer Körper, das spürte Ywha in nahezu schmerzlicher Weise, hatte sich bereits eingefunden.

»Mutter! Wiedergeborene Mutter!«

Ein Meer der Zärtlichkeit. Ein Meer heißer Augen. Ein Meer von Berührungen, mal zarten, kaum wahrnehmbaren, mal schmerzhaft festen, dabei jedoch süßen, heißen und aufrichtigen. Ein Festtag, voll des inneren Sinns.

Ywha erschauderte.

Die Windhose, die sie in den Trichter gezogen hatte, unterwarf sich ihr jetzt, verschmolz mit ihr, saugte sie in sich ein, erhob sich über ihren Kopf. Und Ywha sah, den Kopf im Nacken, durch die hohle Röhre hindurch, die sich drehte, die Sterne.

Sie verströmte Liebe wie ein sommerlicher Fluss des Morgens Dampf verströmt. Wie ein erregter Menschenkörper. Wie der Mond sein Licht. Ganz von selbst, natürlich und einfach, ohne ihr Zutun.

Sie vermochte ihre Gesichter nicht zu unterscheiden. Doch ausnahmslos gehörten sie alle zu ihr, ihre Kinder, die Anteile ihres Wesens, die Zellen ihres neuen Körpers, ihre Finger, Haare und Augen. Staunend nahm sie wahr, wie das Leben in sie einströmte. Dieses Gefühl war so heftig, dass es ihre Kräfte überstieg. Für einen Augenblick gestattete sie es sich daher, in die Hülle jener rothaarigen jungen Frau zurückzugleiten, in deren Augen sich die Scheibe des Mondes spiegelte.

Sie lief an Glastüren vorbei, die splitternd zerfielen, sobald sie sich näherte, spürte auf ihrem Gesicht den Luftzug einer gigantischen Klimaanlage, lachte und zuckte die Achseln.

Die Dunkelheit zerplatzte. Ein Gebäude erstrahlte, leuchtete bis hinauf in die Glaskuppel, bis in den letzten Winkel, das Haus ertrank in fidelem elektrischen Licht, in diesem selbstgewissen Licht des ewigen Tages, das nichts von einem gelben Mond wusste, von Kerzen oder lodernden Fackeln. Rolltreppen erwachten und surrten los, krochen nach oben und nach unten, Flügel von Ventilatoren schossen steil in die Luft, allenthalben leuchteten kleine bläuliche Bildschirme auf; in dem Schirm, der ihr am nächsten stand, erblickte Ywha ihr kleines Ich mit dem reglosen, bleichen Gesicht, den brennenden Augen und einer Feuerkugel aus Haaren, in denen genau in diesem Moment ein Miniaturblitz aufzuckte.

Ywha brach in schallendes Gelächter aus. Die Bilder stapelten sich übereinander. Die rothaarige Frau stellte sich als gänzlich überflüssige Besitzerin dieses menschenleeren Supermarkts heraus. Während ihr wahres Ich, dessen Körper gerade in einem von wahnsinnigen Pferden umrahmten Strudel mitten in der Steppe entstand, sich als ganz und gar überflüssige Herrin dieser großen Welt entpuppte.