Denn das war sie, eine alte Statue. Eine Sphinx, an der die Zeit genagt hatte. Sie rührte sich nicht, sie war ein Turm, der seit dem Anbeginn der Zeiten stand und in dessen Innerem sich Treppen hinaufschlängelten und Gänge kreuzten, sie war das monströse Gebäude einer unbekannten Zivilisation. Sie, die mit den Händen nach den Sternen greifen konnte, sie, die zum hundertsten Mal lebte, sie …
»Segne deine Flamme, Mutter!«
Ihr Blick hob sich, Segen zu spenden.
Der Mann, gekreuzigt an Beton und Stahl, hob ebenfalls den Blick — um den Segen des eigenen Todes zu empfangen.
Mit ihm starb all das, was er verkörpert hatte, jene Welt aus stramm verschnürten Fäden. Eine Welt der Unfreiheit, denn jede Zuneigung …
»Segne deine Flamme, Mutter!«
Woher kam nur dieser fremde Rhythmus? Woher kam dieser ungeschickte, irritierende Rhythmus, der den ewigen Tanz störte?
Sie erzitterte.
Dort! Aus den schiefen Ruinen einstiger Macht und Kraft streckte sich ihr eine Hand entgegen.
Obwohl seine Hände gefesselt waren, durch das Drahtseil gekrümmt, hilflos und reglos. Und dennoch sah sie es genau — wenn auch nicht mit den Augen.
Eine zugleich fordernde und schlaffe Hand, eine fest gespannte Hand, bei der jeder Muskel die Berührung zustande bringen wollte.
Der Strudel kippte zur Seite.
Für einen Augenblick bloß. So neigt sich ein Glas, aus dem ein roter Tropfen Wein schwappt, ein einziger Tropfen nur — der das weiße Kleid der Braut dennoch völlig verdirbt, denn eine Rose, am falschen Fleck erblüht, stört, bringt das Gleichgewicht ins Schwanken. Der Wein im Glas, er strudelt, brodelt, er sucht sich die Freiheit …
Die fremde Hand streckte sich ihr weiter entgegen, nun fast gebieterisch. Der fremde Rhythmus durchwob den Rhythmus des triumphierenden Tanzes, bohrte sich durch ihn hindurch, wie Gras durch Asphalt wächst, wie ein fahles grünes Blättchen, das eine Granitplatte spaltet. Warum jagte ihr dieser im Grunde harmlose Riss eine solche Angst ein?!
Die verschreckten Augen ihrer Kinder. Sie musste sie beruhigen. Sie würde ihnen eine Freude bereiten, ihnen eine weitere Runde in ihrem Reigen erlauben.
Und abermals wirbelte der Reigen in die Höhe. Er schlug auf die ausgestreckte Hand ein, wollte sie abhacken wie einen trockenen, nutzlosen Zweig.
Der fremde Rhythmus riss kurz ab.
Die Sterne zerflossen zu Kreisen, der schwarze Himmel leuchtete auf, der Mond hing wie ein Eigelb in einem Filter brodelnden Kaffees. Ihre Kinder fassten sich bei den Händen und flatterten wie eine festtägliche Girlande durch die Luft, flogen zusammen mit Planeten und Gestirnen einher, an diesem feuerspeienden Festtag. Die Himmelskuppel dehnte sich zu einer Röhre, und dort, am Ende des kolossalen Tunnels, erstrahlte für einen flüchtigen Augenblick ein unwirkliches, überirdisches, märchenhaft schönes Licht.
Das Reisig verschlingend, züngelte die Flamme auf. Der Mann an der Mauer hing reglos da, und er war das Einzige, das in dieser Welt reglos blieb, abgesehen von ihr natürlich, der Statue, dem Turm auf dem Thron.
Doch sein Herz schlug noch. Sein Herz schlug in einem abweichenden Rhythmus, brachte sie aus dem Takt, kippte die feierliche Schale.
Sie erschauderte erneut.
Denn abermals sah sie die ihr entgegengestreckte Hand.
Ihre Kinder peitschten mit Knuten auf die zitternden Finger ein, ihre Kinder lachten sich kaputt, denn schließlich gibt es nichts Komischeres als eine vergebliche Hoffnung.
Da kippte der Strudel wieder zur Seite. Diesmal verlor er einige Sterne, die über den dunklen Rand purzelten und für immer in der Zeitlosigkeit verschwanden. Und er störte den Reigen ihrer Kinder, die durch die Luft flogen, ihrer Teile, ihrer Augen, Nerven und Muskeln.
Es kostete sie enorme Mühe, die schwarze Säule der Windhose wieder über ihrem Kopf aufzurichten.
Dieser Rhythmus! Obwohl er so schwach, hoffnungslos und die Hoffnung verachtend war, zog er Kraft aus der eigenen Verdammnis, dieser kaum wahrnehmbare, alles zerstörende Rhythmus.
Die Statue schwankte. Der Turm bebte, die Zeit, die sich in den Ritzen abgelagert hatte, rieselte wie Staubsand heraus.
Denn die Hand, gebieterisch und rufend, wollte um jeden Preis eine Berührung zustande bringen, selbst noch, als ihr die Knochen schon gebrochen waren …
Wieder verlor die Windhose das Gleichgewicht.
… selbst noch, als sie schwarz verkohlt war, wollte sich diese Hand ausstrecken, sich vorstrecken.
Wie Gras durch Stein.
Diese schlichte Erkenntnis brachte sie ein drittes Mal zum Zittern, worauf sie, bar jeder Stütze, in sich zusammenfiel.
Sie, die mit ihren Händen die Sterne berühren konnte, sie, die bereits hundert Mal gelebt hatte, sie …
Sie, eine rothaarige Frau, die durch das Labyrinth von Gängen und Räumen irrte, sie, die in eine Statue eingeschlossen war und den Ausgang nicht fand.
Sie, die sie vollkommen frei war, die sie die Welt in ihrem Innern verstaute, die sie die Welt durch sich ersetzte.
Grundmotiv, das versteckte sich also hinter diesem Wort. Der Wert, der zum Einzigen wird …
Die Glocke schlug und sagte ihr, nun lasse sich nichts mehr ändern. Keine Stimme dieser Welt klingt triumphaler, klingt hoffnungsloser als die einer Glocke.
Sie …
Bald, Ywha, bald. Bald, Ywha, dort blitzt bereits ein Licht, vielleicht steht dort eine Tür auf, bald, schon bald, nur noch die Treppe nach unten, nach rechts, nach links, achte nicht auf den Boden, der einstürzt …
Das winzige Zimmer, in dem ihre Mutter saß, den Kopf auf die verschränkten Finger gelegt, mit dunklen Ringen unter den Augen.
»Ich wollte dir immer schreiben, Mama. Wenn alles geschafft ist, wenn ich mir etwas aufgebaut hatte, dann wollte ich dir schreiben, das schwöre ich, Mama. Aber jetzt habe ich keine Zeit, jetzt hab ich’s eilig …«
Die Mutter bedachte sie mit einem schmerzlichen und tadelnden Blick. Ywha schoss in den Korridor hinaus, zur Tür links — die war verschlossen, fest verschlossen, mit einem riesigen, verrosteten Schloss. Hinter dieser Tür lauerte die Angst.
Also nach unten, über die Wendeltreppe. An alle Türen hämmernd, rannte sie vorwärts, durch den langen Gang, an dessen Ende ein Licht aufzublitzen schien …
Unzählige trockene Blätter prasselten ihr ins Gesicht. Weiter! Vorbei an einem Zimmer, das bis unter die Decke mit allerlei Kram vollgestopft war. Muffige Kleidung mit den weißen Spuren einer unersättlichen Motte, mit verkrusteten braunen Flecken. Ein Geruch stieg ihr in die Nase, der Geruch nach Naphthalin und Moder.
»Nein!«
In der dunklen Rumpelkammer walkte ihr älterer Bruder ihren jüngeren Brüder methodisch durch, verdientermaßen, und zwar für etwas, das er angestellt hatte, wie üblich für etwas, das er angestellt hatte …
»Ich hab’s eilig! Ich habe keine Zeit, ich muss mich so beeilen, ich werde gebraucht …«
Von der Holztreppe wusste sie genau, dass die vierte Stufe einbrechen würde, und das tat sie auch. Und unter der Treppe lag eine Plastikpuppe, rosafarben, als sei sie mit heißem Wasser überbrüht worden, mit weißen Haaren, für immer von Wasserstoffperoxid verhunzt.
Ywha lief weiter. Sie verirrte sich, kam immer wieder an denselben Ort zurück. Sie hüllte sich in Schweigen. Ywha kämpfte mit der Leere, mit dem Schatten, zog die Zeit wie ein Gummiband in die Länge, denn das Feuer erhob sich höher und höher.