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»Sie hätte es dir noch von sich aus erzählt, Nasaruschka. Früher oder später. Aber ich musste deinen Vater in Kenntnis setzen. Alles andere wäre … meinerseits nicht sehr schön gewesen. Nicht anständig. Meinst du nicht auch?«

»Vielleicht hat sie am Ende selbst keine Ahnung davon?« Nasar schluckte geräuschvoll. »Wäre das nicht möglich?«

Eine Weile lang spielte Klawdi mit dem Gedanken, den Jungen anzulügen. »Leider nein«, meinte er aber schließlich kopfschüttelnd. »Sie wissen immer alles über sich selbst.«

»Dann hat sie mich angelogen«, sagte Nasar tonlos.

Bedrückt zuckte Klawdi die Achseln.

Ywha schlief nicht. Sie lag da, die Decke über den Kopf gezogen, die Nase in die angezogenen Knie vergraben, und stellte sich vor, sie sei eine Schnecke und befände sich in ihrem Häuschen, wo es warm und heimelig war, und alles, was außerhalb dieses Gehäuses passierte, brauchte sie nicht zu interessieren und stellte keinerlei Gefahr dar.

Irgendwann erschöpfte sich ihre Phantasie, während sich der Abend noch immer hinzog. Jemand lief durchs Haus, irgendwo unterhielt sich wer, später ließ dann einer einen Motor an.

Ganz kurz glaubte sie, der Albtraum ende und der Großinquisitor breche auf, woraufhin alles bliebe, wie es gewesen war.

Doch da kam Nasar herein. Ohne das Licht anzuschalten, blieb er im Halbdunkel direkt an der Tür stehen. Ywha verkrampfte sich, traute sich jedoch nicht, als Erste etwas zu sagen.

»Wie geht’s dir?«, erkundigte er sich, und sie begriff, dass er bereits alles wusste. »Wie fühlst du dich?«

Wie fühle ich mich?, fragte sich Ywha. Wie eine Laus beim Friseur, ein wenig unbehaglich …

Nasar schwieg. Unter seinem Blick fühlte sich Ywha, die in der Dunkelheit lag, in der Tat wie eine Laus in einer prachtvollen Mähne, ein kleines Insekt, das durch einen Betrug in diese wunderschöne Welt gelangt war.

»Dann gute Nacht«, sagte Nasar mit hölzerner Stimme, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Ein paar Minuten lag Ywha reglos da und verbiss sich in die eigene Hand. Dann sprang sie auf, schaltete die Stehlampe ein und raffte wie wild ihre Sachen zusammen.

Das fiebrige Tun half ihr vorübergehend, ihre Gedanken zu verdrängen. Sie weidete den Schrank aus und kippte den Inhalt des Nachttischs auf den Fußboden. Die alte Tasche, Ywhas Reisegefährtin, stellte sich als zu klein für all diese Sachen heraus.

Sie hatte sich diesem Leben entwöhnt, in dem ihr gesamter Besitz noch in die zerschlissene Sporttasche gepasst hatte. O ja, sie hatte sich ihm entwöhnt, hatte sich entspannt und ihr Glück genossen.

Als sie begriff, was sie gerade verlor, durchbohrte sie der Schmerz wie eine rostige Nadel. Sie ließ die Arme hängen, setzte sich auf den Fußboden und biss sich auf die Lippe, um nicht loszuschreien. Später würde es genug Raum für Tränen geben. Später.

Dennoch hätte sie geweint, wenn ihr nicht ein anderer Gedanke eine eisige Hand auf die Schulter gelegt hätte: die Inquisition. Und zwar nicht die provinzielle Inquisition, der sie schon so oft entkommen war, sondern die richtige, die Oberste Inquisition, die in ihren Grafs durchs die Gegend fuhr, jenen Nobelwagen in der Farbe einer fetten Kröte.

Als Ywha die Stehlampe ausschaltete, hätte sie beinahe die Schnur vom Schalter abgerissen. Lautlos trat sie ans Fenster. Der herrliche Sommerabend war einer nicht minder schönen, sternenklaren Nacht voll von Grillengezirpe und tiefstem Frieden gewichen. Gestern Abend war sie um diese Zeit mit Nasar …

Ywha verabreichte sich eine Ohrfeige. Der Schlag vertrieb den Gedanken, doch den heftigen Schmerz in ihrem Innern löste ein profaner und vulgärer ab. Obwohl Ywha in der Dunkelheit nicht sonderlich gut sah, überstieg ihr Sehvermögen das eines jeden Menschen …

Sofern es sich bei diesem nicht um eine Hexe oder einen Inquisitor handelte.

So übervoll wie ihre Tasche war, erinnerte sie an die Leiche einer Kuh. Oder an jene Leiche, die sie in ihrer Kindheit auf der Straße gesehen hatte, ein Bild, das sie lange heimgesucht hatte.

Sie atmete stoßweise.

Einen Großteil der Geschenke, die Nasar ihr gemacht hatte, musste sie erbarmungslos wieder auspacken. Sie hätte sich auch ganz von ihnen getrennt, aber die warme graue Jacke leistete ihr so gute Dienste, wenn es regnete, und in den neuen Turnschuhen ließ es sich hervorragend über staubige Straßen wandern, sogar von früh bis spät.

Irgendwann fand sie zwischen den Sachen Nasars weißes Hemd und blieb mit ihm zwei lange Minuten sitzen, das Gesicht in die schlaffen leeren Ärmel gepresst. Der Kragen verströmte Nasars Geruch. Gerüche nahm sie nicht so gut wahr, doch auch das noch besser als jeder andere Mensch …

Sofern es sich nicht um eine Hexe oder einen Inquisitor handelte.

Liebend gern hätte sie sich ein Stück zur Erinnerung mitgenommen. Und Nasar wenigstens ein Wort, wenigstens einen Buchstaben hinterlassen … Sie würde es nicht ertragen können, wenn er von ihr …

… so dachte, wie sie es verdiente.

Sie öffnete die Schranktür, um sich lange in dem klaren, wenn auch verstaubten Spiegel zu betrachten. Eine Rothaarige mit den runden Wangen einer Landpomeranze und Sommersprossen im ganzen Gesicht, mit dieser angedeuteten Spitznase und den kindlich vollen Lippen — und dann auch noch dem Blick einer ausgewachsenen, aber unendlich müden und unsagbar unglücklichen Füchsin.

Die Jagdsaison war eröffnet …

Das Wort »Inquisition« brachte sie wie eine Peitsche auf Trab. Sich lautlos durchs undurchdringliche Dunkel bewegend, riss Ywha das Fenster weiter auf, schulterte die Tasche und setzte problemlos übers Fensterbrett.

Der erste Stock ihres eben noch zukünftigen Zuhauses durfte als niedriger zweiter Stock gelten. Sie blieb im Gras kauern und wartete ab, bis sich der Schmerz in den aufgeschlagenen Beinen legte. In Nasars Zimmer brannte kein Licht mehr, im Unterschied zum Esszimmer. Was ihr ehemaliger Schwiegervater wohl gerade tat? Wenn sie sich vorstellte, was er für ein Gesicht gemacht hatte, als er …

Dieses Mal verzichtete sie auf die Ohrfeige, denn jemand hätte das Klatschen hören können. Stattdessen kniff sie sich mit aller Kraft in den Schenkel, woraufhin der aufdringliche Gedanke abzog. Wie einfach das war — nur ein hässlicher Fleck von violetter Farbe würde ihr bleiben. Den Nasar glücklicherweise nie zu sehen bekäme!

Sie sprang auf, um hinters Haus zu schlüpfen, an eine Stelle, an die das Licht der Laterne nicht drang. Ein Ast des Apfelbaums mit den winzigen, noch unreifen Früchten kratzte gotteserbärmlich über die Ziegelmauer. Er warf einen zerhackten, bemitleidenswerten Schatten.

Mit angehaltenem Atem spähte Ywha vorsichtig um die Ecke. Die Pforte sicherte ein schlichter Haken. Zu dieser späten Stunde trieb sich in ihrer Nähe niemand herum. Trotzdem hämmerte ihr Herz wild und hart.

Ein Auto. Der grüne Graf stand noch immer da, wo Nasar in seinem Übermut zum Wagenschlag gerannt war.

Was war das? Das Geräusch eines Motors? Holte ihr Schwiegervater etwa das Auto aus der Garage?

»Ywha.«

Das kam aus der Nähe. Hinter ihr. Klebrig lief es ihr den Rücken herunter. Warum hatte sie sein Kommen nicht gespürt?

»Du brauchst keine Angst zu haben! Ich werde dir nichts tun.«

»Als ob Sie das nicht schon hätten«, flüsterte sie, ohne sich umzudrehen — obwohl sie sich diese Frechheit auch hätte verkneifen können.

»Tut mir leid«, versicherte der Großinquisitor der Stadt Wyshna. Offenbar tat er einen Schritt nach vorn, denn Ywha verspürte plötzlich sowohl Würgereiz wie auch Schwäche, allerdings in einer gemilderten, rudimentären Form. Vermutlich konnte er das regulieren.