Выбрать главу

Der Herzog wusste viel, zum Glück jedoch nicht alles. Seit geraumer Zeit schon befleißigte sich Klaw einer doppelten Buchführung. Das war zwar heikel und infam, doch wenn der Herzog — schlimmer noch die Allgemeinheit — die wahren Zahlen wüsste …

Nachdem er die Berichte aus den Provinzen für die letzten drei Tage gelesen hatte, presste Klaw die Lippen zusammen und befahl Hljur, die Angaben zu überprüfen.

Es stimmte alles. Hexensabbate waren gefeiert worden, von denen sie vorab nicht einmal etwas geahnt hatten, Initiationen im großen Maßstab hatten nicht verhindert werden können. Schwerer noch wog allerdings die hohe Zahl von Todesfällen, auf die sie sich keinen Reim machen konnten.

Irgendwann rief Fedora an. Ein Ferngespräch aus Odnyza.

Klawdi presste die Zähne aufeinander. Einen schönen Beichtvater hatte sie sich da ausgesucht, einen fürwahr vortrefflichen Beschützer! Ausgerechnet diese starke und unerschrockene Frau. Ein Monolog, gespickt mit »wenn einer was weiß, dann du«, »wenn einer das wieder ins Lot bringt, dann du«, »wenn einer unseren Schutz garantiert, dann …« und als Zugabe: »Kann ich zu dir kommen?«

Klawdi kratzte sich das Kinn.

Morgen früh würde in Wyshna der Rat der Kuratoren zusammentreten. Wer wohl den Brandgeruch bereits gewittert hatte? Genauer: Wer ihn wohl bisher noch nicht gewittert hatte? Wer wohl gegen den Großinquisitor auftreten und ihn bezichtigen würde, ein Protektionist zu sein, ein tödliches, verantwortungsloses und geschmackloses Spiel zu spielen?

Wobei: Im Grunde war selbst das ihm egal. Er wusste ohnehin, wer das sein würde. Der frisch eingesetzte Kurator von Rjanka war ihm treu ergeben, aber Mawyn, der Kurator von Odnyza, fürchtete ihn; mit dem Kurator von Egre verband ihn wiederum eine alte Freundschaft. Den Kurator von Bernst hatte er wiederholt abgekanzelt, und auch den Kurator von Korda hatte er erst vor Kurzem öffentlich für sein — wie Klaw meinte — ganz und gar eindeutiges, wiederholtes Versagen gedemütigt. Der Kurator von Altyza war ein junger intelligenter Mann, der sich stets auf die Seite des Stärkeren stellte — bis er selbst als solcher anerkannt wurde. Sein stärkster Gegner im Rat war der Kurator von Rydna, der den Luxus und die Stadt Wyshna nur allzu sehr liebte. Und der Hexen viel zu sehr hasste. Aufrichtig hasste. »Nieder mit dem Abschaum!« Für ihn war das längst nicht nur eine leere Floskel.

Es roch brandig — denn in Wyshna war die Oper niedergebrannt.

Klawdi hohnlachte. Diesmal hatte sich der Herzog nicht mit einem Anruf begnügt. Einbestellt hatte er ihn, den Großinquisitor, um ihm wie einem kleinen Jungen den Kopf zu waschen. Das Resultat war ein beispielloser Streit. Dabei hatte sich der Herzog als erstaunlich informiert gezeigt. Wer von seinen, Klawdis, engsten Mitarbeitern wohl hin und wieder Geld in einem Umschlag mit dem Staatswappen zugesteckt bekam?

»Kann ich reinkommen?«

Ywha stand in der Küchentür. Ihr Gesichtsausdruck bestürzte ihn. Unter ihren Augen lagen nachtblaue Schatten. Die Lippen zeigten eine schwer zu beschreibende Farbe, verschmolzen fast mit dem Fahlgelb der Haut. In den Fuchsaugen stand eine unsagbare Müdigkeit geschrieben. Klawdi verspürte einen einzelnen, jedoch schmerzlichen Biss des sogenannten Gewissens.

»Natürlich. Hast du schon gegessen?«

»Ja.«

»Tut dir etwas weh?«

»Nein.«

Er zog sie neben sich auf das Sofa. »Es tut mir leid. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich selbst kann das nicht tun. Ich bin schließlich keine Hexe …«

»Schade«, sagte sie mit angedeutetem Lächeln.

Er legte ihr den Arm um die Schultern.

Jedes Mal, wenn er Fedora berührte, löste das eine quälende Anspannung in ihm aus, eine Flut fleischlicher Wünsche; jetzt, da er unter Ywhas dünnem Pullover ihre Rippen spürte, blieb all das aus. Er empfand für sie wie für ein Füchslein. Wie für eine Schwester oder, eher noch, wie für eine Tochter.

Über den flimmernden Bildschirm des Fernsehers rannten lautlos knallbunte, bewusst irreal gestaltete Menschen.

»Ywha … Ich möchte, dass du das verstehst. Ich will mir keinen Orden verdienen. Wie du dir unschwer vorstellen kannst, ist mir so ein Ding völlig egal. Auf uns rollt da irgendeine Sauerei zu, und ich weiß nicht, womit sie, diese Sauerei, sich begnügt. Ob bloß das übliche Postenkarussell, das es auf allen Ebenen der Inquisition gibt, eine neue Runde drehen muss oder …«

Er verstummte.

Da drüben lag es, das schmale Buch. Auf dem obersten Regal, halbleinen. Ereignisse, die sich vor vierhundert Jahren abgespielt hatten und vom Moos der Geschichte überwachsen schienen.

»Und ihr Reich lag in Trümmern …«

Woher stammte dieses Zitat?

Verfaultes Wasser hatte vor vierhundert Jahren die Stadt Wyshna überflutet. Einige Tausend Menschen waren gestorben, zu dieser Zeit praktisch die ganze Bevölkerung. Eine Epidemie war ausgebrochen, es hatte vergiftete Brunnen gegeben, menschliche Körper, eingenäht in den Leib einer Kuh …

Damals zählten die Menschen in dieser Stadt nur einige Tausend.

Ywha stöhnte auf. Er zerquetschte ihr fast die Schultern.

Großinquisitor war damals Atryk Ol gewesen. An einem Winterabend hatte ihn eine Horde von wahnsinnigen Hexen auf dem Hauptplatz Wyshnas in einem hoch aufgeschichteten Feuer verbrannt. Im Namen der Großen Mutter.

»Du musst mir helfen, Ywha. Zu zweit kriegen wir es aus ihnen heraus. Ich muss einfach wissen, was da los ist.«

»Wenn das … so einfach ist … mit Ihrem Periskop … Warum haben Sie es nicht schon früher …?«

»Das ist weiß Gott nicht so einfach.« Er lächelte schief. »Außerdem hatte ich früher …« Widerwillig gab er sie frei. »… keinen Menschen … keine Hexe, der ich vertrauen durfte.«

(Djunka. Mai)

Anfangs war er gerannt, und die Menschen waren ausgewichen und hatten ihm empört nachgebrüllt. Dann versiegte seine Kraft, und er wechselte in Schritttempo, schließlich gewann er die Kontrolle über sich zurück.

Vor ihm tauchte die lustige Markise einer Nachtbar auf. Er wollte sich ein großes Glas voll mit einem bitteren und starken Schnaps bestellen, der ihm schlagartig den Verstand raubte, überlegte es sich jedoch im letzten Moment anders und wählte Orangensaft. Es brachte nichts, hysterisch zu werden.

Der Saft, ebenso süß wie sauer, wollte nicht runter. Klaw musste mehrmals husten, bevor er endlich das Glas ausgetrunken hatte. Das schummrige Licht des Etablissements wirkte unerträglich grell, die Figuren der Menschen, die vorbeigingen, verschwammen vor seinen Augen. Klaw kam sich wie ein kaputter Apparat vor oder wie eine Filmkamera, die versuchte, die Schärfe zu regulieren.

Dabei könnte er jetzt im Sarg liegen.

Als er grinste, wich die junge Kellnerin, die dieses Hohnlächeln auffing, zurück. Sie musste ihn für einen Verrückten halten. Vermutlich würde sie die Polizei rufen.

Dabei könnte er jetzt im Sarg liegen. Was wohl die Gerichtsmediziner sagen würden? Selbstmord? Wahrscheinlich.

Er atmete tief durch und wartete auf den nächsten Schwindelanfall. Der Lichterfluss unter ihm … war unendlich weit entfernt gewesen. Der Flug hätte wohl eine halbe Minute gedauert. Währenddessen hätte er in die erhellten Fenster geblickt …

Wie zum Teufel konnte der Zaun auf dem Dach durchgebrochen sein?!

Ein Zufall. Ein willkürliches Zusammentreffen. Jeder, der auf ein Dach steigt, sollte an die Erdanziehungskraft und die Zerbrechlichkeit der eigenen Knochen denken. Er war ja selbst schuld …