»Sie brauchen sich gar nicht über mich lustig zu machen!«
Die Scham trieb ihr jäh die Tränen in die Augen. Sie wusste nicht einmal, wer für diese ganze Situation verantwortlich war. Sie, Ywha? Klawdi? Oder jene Hexe, in dessen Seele sie heute ohne jedes Recht eingedrungen war?
»Hören Sie auf, sich über mich lustig zu machen! Denn die Liebe … die steht über alldem. Ja, Ihr Bett ist widerlich! Ja, Nasar hat mich sitzen lassen! Aber die Liebe … die Liebe schert sich einen Dreck darum. Sie fragt nicht nach uns … es ist ihr gleich, was wir von ihr denken. Es ist ihr gleich, dass ausgerechnet wir sie nicht abbekommen haben … Sie ist einfach da. Vielleicht hilft mir das sogar ein bisschen …«
»Du hast dich nie mit Philosophie beschäftigt, Ywha. Sonst würdest du sagen, die Liebe sei eine objektive Realität, die unabhängig von unserer subjektiven Wahrnehmung existiert.«
»Lachen Sie ruhig! Von mir aus sogar laut!«
»Ich mache mich nicht über dich lustig. Das ist ein Grundmotiv.«
»Was?«
»Das Grundmotiv. Für dich ist es das, was du die Liebe nennst. Für die heutigen Hexen ist es offenbar die Mutterhexe.«
»Und für Sie sind es vermutlich Ihre Zigaretten. Okay, mir reicht’s, ich gehe.«
Sie war aufgebracht genug, um nicht lange zu fackeln oder sich umzudrehen.
Die Sonne sank immer tiefer, verkroch sich hinter den Dächern. Schatten wanderte durch die Straßen, die Reklameschilder der zahllosen Straßencafés erwachten, öffneten sich wie die Augen eines Nachttiers.
Das Banjo in dem Restaurant um die Ecke war verstummt. Jetzt sang dort ein breitschultriger Mann mit erstaunlich blauen Augen zur Gitarre. Er trug ein extravagantes Jackett und zerschlissene Jeans. Ohne auf jemanden zu achten und mit gedankenleerem Kopf setzte sich Ywha an den nächstbesten Tisch.
»Was wünschen Sie?«
Zu spät fiel ihr ein, dass ihr Geld nur noch für ein Eis reichte.
»Ein Eis.«
»Sonst noch etwas?«
Der Mann mit den blauen Augen sang gut. Ein Lied über den Frühling und den Regen.
»Mehr nicht. Nur ein Eis.«
»Und zwei Cocktails sowie zwei Salate. Du hast doch bestimmt Hunger, Ywha, oder? Wie immer?«
Sie fuhr zusammen.
Priw trug Freizeitkleidung. Ein Hemd mit Blumenmuster und helle Hosen. Um seinen Hals baumelte eine Silberkette. Vermutlich steckte die Plakette, die silberne Dienstmarke der Tschugeister, unter seinem Hemd.
»Danke, aber ich will nichts«, antwortete sie automatisch.
Priw lächelte.
Ein unschönes Lächeln. Plötzlich verkrampfte sich Ywhas Bauch.
»Aber ich will. Sehr. Schon seit Langem.« Er kippte einen der aparten Bistrostühle so, dass er auf einem Bein stand, wirbelte ihn herum, setzte sich rittlings darauf und legte das Kinn auf die Lehne. »Wir beide trinken jetzt etwas. Dann tanzen wir. Ich habe genug von dem Reigentanz. Ich möchte gern mein Mädchen einladen …«
Der Sänger intonierte ein Lied über den Dschungel und die Sterne. Die Kellnerin brachte zwei hohe Gläser mit einer Flüssigkeit, die in sattem Orange funkelte. Und zwei komplizierte Gebilde aus mariniertem Gemüse.
Ywha beobachtete, wie die Limonenscheibe an der hohen Glaswand mit ihrer feuchten Seite die bunten Lichter einfing, die im Takt des schnulzigen Liedes flackerten. Ihr eigenes Gesicht kam ihr versteinert vor, tot wie eine Maske. Sie schien kreidebleich. Und offenbar nahm Priw das mit Genugtuung zur Kenntnis.
»Priw … das war nicht … richtig von mir. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht … beleidigen.«
»Ach nee?!«
»Ehrlich! Ich wusste nicht mehr, was ich tat!«
»Ich habe dich gesucht.« Sein Lächeln kehrte zurück. »An höchst zweifelhaften Orten. Ist es da nicht ein Wink des Schicksals, dass ich dich ausgerechnet in meinem Lieblingscafé treffe? Auf dein Wohl, Ywha.«
Seine Lippen wanderten ohne jede Anstrengung bis zu den Ohren. Ein alberner Tschugeist, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit — und dennoch saß er ihr gegenüber.
Ywha drehte sich um. Hoffnungsvoll blickte sie zu den Passanten hinüber, doch es wollte kein bekanntes Gesicht auftauchen. Klawdi war auch schon lange weg, hinabgestiegen in seinen feuchten Keller, wo er zur Abwechslung mal wieder den Abschaum ausrottete.
Priw ließ das Gemüse krachen. Er warf die Oliven in die Luft und fing sie mit dem Mund auf. Zufrieden grinsend fuhr er sich mit der schmalen Zungenspitze über die Oberlippe. Dann zerbiss er knackend weitere Bestandteile der Salatkomposition, und indem er sowohl die Gabel als auch jegliche Tischmanieren vergaß, verwandelte er die Nahrungsaufnahme in eine Showeinlage. Die Leute an den Nachbartischen kicherten.
»Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Ywha hilflos.
Priw schob sich in jeden Mundwinkel ein Stück von einer Frühlingszwiebel, was ihn wie einen Vampir mit grünen Eckzähnen aussehen ließ. Eine Grimasse schneidend, mimte er ein Monster. Am Tisch rechts brach man in lautes Gelächter aus. Am Tisch links schnaubte man und wandte sich ab.
»Priw«, sagte Ywha entmutigt. »Was ist für dich ein Grundmotiv? Gibt es dir was, eine Njawka zu töten?«
Sollten ihn die Worte beleidigt haben, so ließ er sich das nicht anmerken. Ungerührt saugte er seine Eckzähne ein, kaute, rutschte vom Stuhl — und zwar wortwörtlich, so wie ein müder Reiter vom Pferd rutschte. Dann wandte er sich dem Sänger zu.
Vermutlich kannten hier wirklich alle diesen Priw. Oder sein Äußeres war in diesem Augenblick besonders beredt. Jedenfalls ließ der Sänger seine eben erst angestimmte Ballade auströpfeln; in der eintretenden Stille brauchte der Tschugeist seine Stimme nicht zu erheben. »Wir bitten um einen heißen Tanz.«
»Priw!« Ywhas Hände wurden eiskalt. »Ich habe keine Lust zu tanzen.«
»Sei kein Feigling.« Mit einem schiefen Grinsen packte er sie beim Arm. »Ich werde dich schon nicht zu Tode tanzen.«
Der Sänger griff in die Saiten. Die Lichter um die Bühne antworteten mit einem Feuerwerk rhythmischer Reflexe. Wenn Ywha sich widersetzte, dann nur schwach. Priw zog sie zu der kleinen Tanzfläche, die wie eine richtige Bühne in grelles Licht getaucht wahr.
Ein scharfer Wind peitschte Ywha ins Gesicht.
Das war er, der Tanz der Tschugeister.
Sie wirbelte im Kreis, wirbelte, obwohl sie ausbrechen wollte. Jedes Mal packte die Hand ihres Partners sie kurz vor dem Ausscheren. Priws buntes Hemd loderte im Licht der Scheinwerfer, die orangefarbenen Palmen funkelten, die blauen Papageien leuchteten. Das Hemd verzauberte sie, kettete sie an den Rhythmus. Irgendwann akzeptierte Ywha verzweifelt die Regeln des Spiels, das ihr aufgezwungen worden war.
Der Boden unter ihren Füßen glühte und rauchte. Selbstvergessen und wütend tanzte Ywha, rebellierte nicht länger gegen ihren Partner, ordnete sich ihm jedoch auch nicht eine Sekunde lang unter. Im Grunde konnte sie nur so ihre Ansichten über das Leben und ihren Platz darin zum Ausdruck bringen. Genau wie die Erinnerungen an den Flug über die schiefen Kiefern. Oder den Geruch des brennenden Theaters, die Nadel, die sich durch das Sternenherz bohrte.
Eine Schar riesiger Schmetterlinge schien durch die Luft zu flattern und mit ihren Flügeln ihr Gesicht zu streifen. Von diesen Flügeln rieselte Staub, fiel ihr in die Augen, und es blieb ihr keine Zeit, ihn auszureiben, also brannte es und stach und ihr kamen die Tränen. Alles um sie herum schien sich zu verknäulen, zu verhaken, glich dem Werk einer wahnsinnigen Spitzenklöpplerin. Der Rhythmus. Dieser Rhythmus, der alles erschlug, erfasste, ihr Partner, der sich wie irre drehte.
Unter ihr der Holzboden. Über ihr die Decke mit den gipsernen Eiszapfen zur Zierde. Die flackernden Lichter.