»Hexe«, formten die Lippen des Mageren das Urteil. Genauer gesagt, sie wollten das Wort gerade aussprechen, als ein Schrei den beengten Innenraum des Busses durchriss.
Die Frau in dem warmen Pullover, die neben Ywha saß, schrie auf, und ihre Stimme bohrte sich wie ein Spieß in jedes Ohr. Als Ywha von ihr abrückte, wäre sie beinah auf dem knochigen Mann gelandet.
Das blutleere Gesicht, das schließlich aus dem grauen Kragen aufstieg, war in Panik verzerrt. Die abgezehrten Hände, die die Frau zu verbergen suchte, erinnerten an Vogelkrallen. »N… nein … Ne… «
Die beiden Tschugeister, die hinter dem Rücken des Mageren hervortraten, zogen die Frau, die sich sträubte, bereits zur Tür. Durch den gesamten, vom Geschrei paralysierten Bus kroch den dreien ein Flüstern hinterher: eine Njawka … eine Njawka … eine Untote … eine Njawka …
Der Magere zögerte noch. Wieder belinste er Ywha. Er fuhr sich mit dem Finger über die Lippe, als fege er einen dort sitzenden Krümel weg. In Gedanken versunken stand er — bis er sich endlich in Richtung Ausgang bewegte. Eine Njawka … hier … im Bus … eine Njawka, murmelten die erregten, leicht heiseren Stimmen.
An der Tür drehte sich der Tschugeist noch einmal um. »Unser Dienst dankt allen Fahrgästen für die engagierte Mithilfe, die uns bei der Festnahme eines besonders gefährlichen Individuums des Typus Njawka gewährt wurde. Angenehme Weiterfahrt …«
Da Ywha seinem Blick nicht noch einmal begegnen wollte, wandte sie den Kopf und schaute zum Fenster hinaus.
Die, die eben noch neben ihr gesessen hatte, kreischte ununterbrochen, nur büßte ihr Schrei immer mehr an Volumen ein, und schließlich erstickte ihn die dicke Scheibe des Busses vollends. Die Njawka hockte auf Knien am Straßenrand, vor ihren erstaunlich großen Augen hing ein Schleier des Entsetzens. Ein paar Mal riss sie den Mund weit auf. Ywha glaubte die Worte eines zusammenhanglosen Gebets zu hören, die dem Mund zusammen mit dem Schrei entschlüpften.
Der Magere und seine beiden Kollegen bauten sich langsam um die Njawka herum auf, die sie zum Zentrum eines gleichseitigen Dreiecks machten. Ihre seitlich ausgestreckten Arme berührten sich flüchtig, als wollten die Tschugeister einen Reigen um ihr Opfer vollführen. Die Njawka schrie mit neuer Kraft los. In diesem Augenblick fuhr der Bus an.
Die Bäume und die schrägen Dächer in der Ferne zogen an den Fenstern vorbei. Erst ein paar Minuten später begriff Ywha, dass sie mit all ihrem Gewicht auf dem knochigen Mann lastete, der sich jedoch nicht getraut hatte, sie einfach wegzuschieben.
Im Bus fingen alle zugleich zu sprechen an. Ein Kind weinte. Jemand fand für seine Eindrücke lauthals die unanständigsten Worte, ein anderer kicherte, ein Dritter lachte fröhlich. Die meisten zeigten sich jedoch empört, behaupteten, die Njawken nähmen überhand und der Tschugeister-Dienst komme mit dem Fangen nicht nach. Außerdem sei es unmoralisch, Njawken an öffentlichen Orten zu erledigen, da könne man ja gleich einen streunenden Hund auf einem Kinderspielplatz erschießen. Obendrein lege die Regierung die Hände in den Schoß, während die Steuergelder im Nichts versandeten und die Stadt allmählich zum Spielball des Bösen werde. Erst die Njawken, dann die Hexen …
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Ywha bei dem Mann, der neben ihr saß. Dieser lächelte bloß einfältig.
Der Sitz rechts von Ywha blieb leer. Über ihm zitterte eine sorgfältig in der Gepäckablage verstaute Plastiktüte. Ihre Besitzerin dürfte inzwischen nicht mehr unter den Lebenden weilen.
Allerdings galt das schon seit einer ganzen Weile. Eine Njawka konnte man doch nicht mehr umbringen, denn sie war ja ohnehin tot. Eine Njawka musste man ausweiden, ganz und gar vernichten. Und die Tschugeister verstanden ihr Handwerk.
Ywha hatte das schon einmal mitangesehen. Die Tschugeister nehmen an anderen keinen Anstoß, fürchten auch keine Zeugen. In ihrer Offenheit lag etwas Anstößiges. Normalerweise brachten sie ihr Opfer nicht weiter als bis zur nächsten Hausecke. Auf offener Straße, mitten in einem Hof vollzogen sie ihr Ritual, das eigentlich in einem menschenleeren Keller ausgeführt werden sollte. Selbst Kinder wohnten manchmal dem Tanz der Tschugeister bei. Nachts nässten sie dann ins Bett und bereiteten ihren Eltern allerlei Kummer und Sorge. Tschugeister töten Njawken mit einem Tanz. Dieser Tanz spinnt das Opfer in ein unsichtbares Netz ein, erstickt es und presst es aus. Auch eine dematerialisierte Njawka hatte Ywha schon gesehen. Genauer gesagt, sie hätte sie sehen können, wenn sie sich nicht davor gefürchtet und den Blick abgewandt hätte …
Am Fenster zogen die gekrümmten Schultern eines Fahrradfahrers vorbei, der in die Pedale trat. Ywha schluckte. Verglichen mit den Tschugeistern nahm sich die Inquisition fast wie Väterchen Frost aus. Der gute Alte, der erst Geschenke an die braven Kinder verteilte und in den leer gewordenen Sack dann diejenigen stopfte, die weniger folgsam gewesen waren.
Der knochige Mann neben ihr schien sich einzubilden, nun, nachdem Ywha schon auf seinen Knien gesessen hatte, hätte er gewisse Rechte erworben, und zwinkerte ihr frech zu. Angewidert wandte sich Ywha ab.
Klawdi raste nie. Selbst jetzt, auf der leeren Überlandstraße, jagte er nicht in halsbrecherischer Geschwindigkeit dahin, wie es die ungeheure Motorstärke des Autos eigentlich verlangte. Er fuhr einfach in normalem, wenn auch nicht sonderlich langsamem Tempo. Beim Fahren wollte er sich entspannen, legte es jedoch nicht auf einen Kick an. Allerdings kam der Großinquisitor auch ohne diesen Geschwindigkeitsrausch in den Genuss extremer Empfindungen — in letzter Zeit sogar mehr, als ihm lieb war.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Instinkten zu vertrauen. Wenn ein unangenehmes, im Grunde genommen jedoch nicht außergewöhnliches Ereignis einen unerklärlichen Alarm in ihm auslöste und ihn dieses Gefühl, obwohl es sich längst gelegt haben sollte, nicht verließ, dann nahm er das Signal ernst. Dann fragte er sich: Woher rührte es?
Klawdi fuhr durch die letzten Schwaden des Morgennebels. Auf dem Beifahrersitz leistete ihm eine halbleere Schachtel dünner teurer Zigaretten Gesellschaft. Er rauchte, den Ellbogen aufs Fenster gestützt. An einer Seite der Windschutzscheibe klebte ein Bild, ein spitzbübisches Mädchen auf einem Besen, mit einem im Wind wehenden Schwanz, einem spielerisch entblößten Bein und charmanten Grübchen in den rosafarbenen Wangen.
Das Bild hatte Klawdi letztes Jahr an einem Kiosk gekauft. Er hatte es aus einer Unmenge von lachenden Echsen, Krokodilen, Robotern, nackten Feen und bärtigen Magiern ausgewählt. Und er war der einzige erwachsene Kunde gewesen, alle anderen waren Kinder.
Kurz riss er den Blick von der leeren Straße, um das eigene Spiegelbild in der Scheibe zu betrachten. Verschwommen und bleich, wie ein Gespenst, mit einem unangenehmen Lächeln um die dünnen Lippen. Vorurteile …
Wer, wenn nicht er, verstand etwas über das verknäulte Netz von Vorurteilen, das sich seit Langem über den Hexen zusammenzog. Wer, wenn nicht er, vermochte die mächtigen Wurzeln all dieser diffusen Ängste auszumachen. Wenn Julian Mytez das über Hexen gewusst hätte, was dem Großinquisitor im Zuge seines Berufs bekannt geworden war, hätte er Ywha kurzerhand auf der Wiese vor seinem Haus verbrannt. In dem Lagerfeuer bei ihrem Picknick …
Und trotzdem: Worum handelte es sich bei dieser Kette von Ereignissen, die sich da in seinem Gedächtnis wand und sich zwar nicht an der Oberfläche zeigen, aber auch nicht vergessen werden wollte? Woher speiste sich dieses Gefühl einer drohenden Gefahr, diese Ahnung eines nahenden Unglücks?