Klaw schloss die Augen.
Die Straße, die tief unter ihm dahinströmte. Die dunkelrote Schnauze einer Diesellok. Ein Föhn, der in einen Berg aus Schaum abtauchte.
Von außen betrachtet, sah das alles schrecklich aus. Trotzdem fürchtete er sich jetzt am allermeisten davor, Freude zu empfinden.
In wenigen Minuten würde etwas zerstört werden, das sein Leben in eine einzige Qual verwandelt hatte.
Eins wusste er: Wenn er jetzt auch nur einen Schatten von Erleichterung empfand, würde er sich das nie verzeihen. Dann würde er sich selbst nicht mehr in die Augen sehen können und das Recht verlieren, sich einen Mann zu nennen: Klaw zu heißen.
Und er fühlte auch keine Erleichterung.
Überhaupt hatte er die Fähigkeit eingebüßt, etwas zu empfinden. Er stand bloß da und stierte. Auf das Fenster im vierzehnten Stock. Hörte die bedächtigen Schritte im Treppenhaus, das Wummern des Lastfahrstuhls.
Dann kamen sie wieder heraus.
Und sie kam mit ihnen. Ohne dass die Tschugeister sie zerrten.
8
… Im Mondlicht wirkte die Kuh porzellanen. Genau wie Ywha selbst, ein weißer nackter Körper, vollkommen und fremd. Sie lief neben der schweigenden Kuh einher, murmelte Worte, die ihre Seele wie ihren Körper trunken machten, die Kuh wie auch die in einem Unterschlupf erstarrten Menschen, das heißt: verzauberte, reglose, gierige Männer.
Gedankenverloren schritt sie weiter. Die weit aufgerissenen, großen Augen dieser Männer gingen sie nichts an.
Auch das Auge des Mondes stand offen. Das weiße Euter berührte das hohe Gras. Sie berauschte sich an Kraft. Weder gebrauchte sie diese Kraft noch gab sie ihre Existenz preis; sie trug sie einfach in sich, wie einen randvollen Melkeimer. Und ihre Kraft glich der Milch, roch nach Gräsern und Blumen.
(Such das Grundmotiv. Das Grundmotiv. Das Grundmotiv.)
Das Auge des Mondes zwinkerte. Über die weiße Pupille kroch eine wurmlange dunkle Wolke. Die Kuh wackelte verschreckt mit den Ohren. Nach wie vor war kein Laut zu hören, aber in den überwältigenden Geruch des nächtlichen Feldes schlängelte sich ein beißender Rauchfaden.
Von Krämpfen geschüttelt, seufzte sie.
Die Welt war leer, ihr Glück eine Illusion. Die Welt war leer, die Kuh Nippes aus Porzellan, die Kraft ein Windhauch, der kaum über das Gras strich …
(Such!)
Sie war eine Tochter, die sich verirrt hatte. Sie würde die Mutter nicht finden, zu groß war das Feld, zu hoch stand der grüne Roggen.
Ywha fing an zu weinen.
»Damit will ich keineswegs behaupten, jede junge Frau stelle gegenwärtig eine Gefahrenquelle dar. Mehrheitlich sind Frauen für die Gesellschaft sogar von größtem Nutzen. Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen die Augen auch nicht vor den Fakten verschließen. Ist Ihnen bekannt, dass sich allein im letzten Monat die Gesamtzahl der Hexen verdoppelt hat? Natürlich ist das geschehen! Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich binnen der nächsten Woche verdreifacht. All die bescheidenen und ehrlichen Frauen, deren sich unsere ruhmreiche Inquisition so väterlich angenommen hat, indem sie sie registriert und ihnen damit die Freiheit geschenkt hat — all diese sind heute aktive Hexen. Es sind diejenigen, die morgen das Wasser in unseren Brunnen vergiften. Sie schicken uns Pest und Hunger an den Hals. Ja, meine Damen und Herren, wir haben unterdessen alle vergessen, was das bedeutet. Doch vielleicht haben die Hexen bereits in einem Jahr ihre eigene Inquisition! Und dann werden wir, die wir nicht zum Hexenzirkel gehören und folglich in einem Jahr in der Minderheit sein werden, registriert und ins Gefängnis gesteckt. Dann werden die Hexen die Welt regieren. Können Sie sich überhaupt vorstellen, was das heißt?«
Ywha kannte den Sprecher. Letztes Mal hatte sie ihn ebenfalls im Fernsehen gesehen; damals hatte er auf einer Parkbank gesessen, mit dem Rücken zu Tauben, die über den Rasen stolzierten; das dem Zuschauer zugekehrte Gesicht war gepixelt gewesen. »Ja, meine Herren! Der Inquisition stehen bereits heute Mittel zur Verfügung, die es ihr erlauben, einer Hexe ihre, wenn man so will, Hexenschaft zu nehmen! Sie in gewisser Weise zu reinigen! Nachzubessern!«
Diesmal trat er offen auf, mit einem unmanipulierten Gesicht. Spöttische Augen, in denen nicht der Schatten eines Zweifels lag, ein heller Bartstreifen unter der kleinen Nase und ein glatt rasiertes Kinn.
»Machen Sie sich nichts vor! Schnuppern Sie nicht an einer Rose, wenn um Sie herum stinkende Scheiße quillt! Schlüpfen Sie endlich in den Mantel des Bürgers zweiter Klasse! Freunden Sie sich mit Ihrer Nachbarin, der Hexe, an, vielleicht legt sie ein gutes Wort für Sie ein! Das schmeckt Ihnen nicht?! Dann rufen Sie dem Herzog in Erinnerung, dass Sie ein Bürger sind! Dass Sie Steuern zahlen! Dass die hilflose Einrichtung, die sich Inquisition nennt, Sie entweder bedingungslos zu verteidigen hat oder ihre Tätigkeit einstel …«
»Wer ist das?«, fragte Ywha, während sie den Ton leiser stellte.
Der Referent, der im Vorzimmer das Kommando führte wie ein Kapitän auf der Schiffsbrücke, riss sich kurz von seiner Beschäftigung los. »Ein Politiker.«
Ywha stellte keine weiteren Fragen. Das Wort »Politiker« klang im Mund des Referenten wie ein dreckiges Schimpfwort. Der Großinquisitor selbst schien Politikern kaum gewogener zu sein.
Sie senkte den Blick. Ein Mann, der vor vierhundert Jahren gelebt hatte, der Großinquisitor Atryk Oclass="underline" Er hatte nicht angenommen, dass sein detailreiches, nur für den Hausgebrauch verfasstes Tagebuch dereinst entziffert, behutsam an die Sprache seiner Nachfahren angepasst und zur Verwendung innerhalb der Inquisition herausgegeben werden würde. Im Kerzenlicht mit der Gänsefeder übers Papier kratzend — und Ywha war überzeugt davon, dass eine Feder, noch dazu eine Gänsefeder, kratzen musste –, hatte Atryk Ol minutiös alle Eindrücke des zurückliegenden Tages auf Papier festgehalten, ohne an zukünftige Leser zu denken oder sein eigenes schlimmes Los zu ahnen. Das Buch, das Ywha von der letzten Seite zu lesen angefangen hatte, machte einen befremdlichen Eindruck auf sie, da es sie gleichzeitig fesselte und mit Traurigkeit erfüllte.
Der letzte Eintrag datierte vom Todestag des Autors und wirkte zusammenhanglos, zerrissen und unvollendet.
»Gestern peinigte mich starker Schmerz in der rechten Bauchhälfte, weshalb ich meinen Eintrag nicht vollendete und erst heute Morgen das Ausgelassene nachtrage: Meine Herrinnen — die Hexen — scheinen von ihrer eigenen Hände Tat selbst erschrocken, denn am gestrigen Tag stieg das Wasser keinen Fingerbreit. Das versichern zumindest die Menschen, das versichert das noch in der Stadt verbliebene Geschmeiß, vermutlich nimmt sogar der Herr Herzog selbst es an. Und ich werde mich nicht anschicken, sie von ihrem Glauben abzubringen, dieweil eine jede Hoffnung wärmt und sättigt, wo Holz und Nahrung fehlen. So mögen sie sich mit der Hoffnung trösten […]. Ich allein zweifle hingegen keinen Augenblick daran, dass meine Herrinnen nicht über die eigenen Gräuel erschrocken sind. Wenn das Wasser heute nicht steigt, dann wird morgen nur umso größeres Unheil dräuen.
Mithin habe ich, dem allein es an Hoffnung gebricht, entzöge eine solche Hoffnung mir doch jedwede Kraft, meinen Herrinnen einen würdigen Empfang zu bereiten. Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde […]. Und noch heute wird sich um ihren Hals die eiserne Zange schließen, die mein Wille geschmiedet.