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Klagend kommen die Menschen zu mir und fragen mich: Warum eilt die große Kraft, welche die Welt erschaffen hat, uns nicht zu Hilfe? Ich antworte ihnen: Warum seid ihr selbst so hilflos? Warum sind einzig meine Herrinnen — die Hexen — frei und stark, mag die Kehrseite ihrer Freiheit auch das Böse sein?

Ich habe eine Welt geschaut, in der meine Herrinnen mit Stumpf und Stiel ausgerottet sind. Öd, grau und unfruchtbar war sie. Eine Welt indes, in der meine Herrinnen sich ungehemmt vermehren, ist noch hundertfach schrecklicher. In ihr gibt es kein Morgen, kein Stein wird auf dem anderen bleiben, sondern in den nie versiegenden Strom aus Wasser und Landmasse gespült, und kein Palast wird noch stehen, sobald ihm jeder feste Grund entzogen, der da ist unsere Pflicht und Schuldigkeit. Sie werden gleich einer Kette unseren Willen knechten, uns damit freilich auch erst die Kraft zum Leben verleihen.

Ein rotlatziger Vogel, auch Schneeammer genannt, bittet unterm Fenster um Brot. Ich befehle der Magd, ihn zu füttern, in diesen kargen Tagen bemächtigt sich selbst ihrer der Geiz.«

An dieser Stelle endeten die Aufzeichnungen. Allem Anschein nach hatte der Großinquisitor Atryk Ol in seinem Leben keine weitere Zeile geschrieben, von einer Unterschrift unter einen letzten Befehl vielleicht abgesehen. Ein kurzer Kommentar teilte mit, dass »infolge eines direkten Kontakts mit der vermeintlichen Mutterhexe, der wohl zum Tod Letzterer führte, der Inquisitor Atryk Ol völlig entkräftet und teilweise erblindet war, worauf die in der Stadt versammelten unzähligen Hexen schrankenlose Macht über ihn erlangten. Der Stich eines unbekannten Künstlers, offenbar ein Augenzeuge der Ereignisse, hält den Augenblick von Atryk Ols Tod fest. Die Hexen hatten ihn geteert, in Stroh gewälzt und angezündet.«

Ywha blinzelte. Sie hob den Blick und schaute zum Fernseher.

Im Gesicht des Kommentators spiegelte sich gezügeltes Mitleid, als habe er das Zimmer eines schwer kranken und ihm völlig unbekannten Menschen betreten. Dann erschien eine Frau in mittleren Jahren, die Kamera erfasste sie fast von hinten, die Zuschauer bekamen nur den Nacken, ein Ohr und den Rand der Wange zu sehen. Ywha griff zur Fernbedienung.

»… und daraufhin bin ich zu ihr gegangen, weil es mir unmöglich geworden war weiterzuleben.«

»Hat er Sie betrogen?«

»Ja, und … unseren Sohn hat er in … irgendeine Bande eingeschleust oder in eine Clique. Da bin ich zu ihr gegangen und habe gesagt: Hilf mir, Mütterchen, ich kann nicht mehr …«

»Und hat sie Ihnen geholfen?«

»Ja. Ich habe sie mit Wodka bezahlt, mit Geld … und ihr Brennholz gebracht. Seit dem Tag ist er wie ausgewechselt, sitzt ständig zu Hause … lässt unseren Sohn zufrieden …«

»Ist Ihnen klar, dass es einen Straftatbestand darstellt, eine Hexe zu beauftragen?«

»Was heißt hier beauftragen?Ich habe nichts unterschrieben, kein Papier. Nichts! Außerdem kann ja wohl niemand etwas dagegen haben, wenn mein Mann, dieser Säufer und Hurenbock, wieder anständ …«

»Und was würden Sie dazu sagen, wenn zu derselben Hexe morgen die Geliebte Ihres Mannes ginge? Wenn die Hexe ihr ebenfalls helfen würde? Indem sie alles wieder rückgängig machte?«

Die Frau brachte kein Wort heraus. Schnaufte und schwieg. Das Ohr, das der Kamera zugekehrt war, färbte sich allmählich knallrot.

Die nächste Einstellung. Eine junge, quirlige Frau. Ihre Augen verbarg ein schwarzer Balken.

»Weshalb hast du das getan?«

»Die hat mir meinen Freund ausgespannt.«

»Den, den du heiraten wolltest?«

»Genau! Aber jetzt hab ich’s mir überlegt! Diese Fo…«

Die aufmerksame Zensur überblendete den unflätigen Ausdruck mit einem langen kräftigen Piepton.

»Weißt du, was jetzt passieren kann?«

»Mir egal! Das kriegt die Hexe ab, nicht ich.«

»Hast du sie bezahlt?«

»Pah! Wie käme ich dazu?! Wenn ich sie bezahlt hätte, wäre es ein Auftrag. Aber so …«

»Die Frau hat beide Beine verloren, tut sie dir denn gar nicht leid?«

»Das hätte sie sich halt eher überlegen müssen, bevor … sie einer anderen den Freund ausspannt! Diese Fo…!«

Ein erneuter Bildwechsel. Der Kommentator schaute so eindringlich, dass Ywha der Ausdruck Stierauge in den Sinn kam.

»Die Menschheit lebt nicht erst seit gestern in einer Gemeinschaft mit Hexen. Und auch nicht erst seit einem Jahrhundert. Man braucht sich ja nur einmal umzusehen. Wer hätte denn noch nie die Dienste einer Hexe in Anspruch genommen? Insofern müssen wir alle uns fragen, warum wir jetzt jammern, sobald wir im Heft unseres kranken Sohnes das Zeichen der Kette entdecken, auf einer Postkarte, die ihm eine Klassenkameradin geschenkt hat?«

Ywha stellte den Ton wieder leiser.

»Was ist das Zeichen der Kette?«

»Könntest du mich vielleicht in Ruhe arbeiten lassen?«

Der Referent zog die Brauen zusammen, in seinen Augen lag jedoch keine Verärgerung. Der junge, ehrgeizige Mann, der es aber wohl trotz allem nie zum Inquisitor bringen würde, mochte sie im Grunde, das wusste Ywha.

Als sie lächelte, bemerkte sie selbst, wie freundlich und charmant sich ihre Mundwinkel verzogen. »Tut mir leid … Myran.«

Schnaufend gab der Referent vor, von den Dingen auf seinem Computerbildschirm aufs Äußerste gefesselt zu sein, bis er sich ihr schließlich doch mit einem resignierten Seufzer zuwandte. »Das Zeichen der Kette steht für eine einmalige Manipulation. Es wird von allen Hexen verwendet, die mindestens einen dreißiger Brunnen haben. Dir ist klar, was es mit dem Wert eines Brunnens auf sich hat?«

»In etwa«, bestätigte Ywha.

»Gut. Das Zeichen der Kette ruft eine Art Drogenabhängigkeit hervor, von dem Menschen verursacht, der dieses Zeichen einsetzt. Es funktioniert wie eine konzentrierte Variante des Liebestranks, indem es eine Art Sklaven-Herr-Beziehung herstellt. Der Mensch an der Kette ist sozusagen auf Turkey, sobald er sich nicht in Gesellschaft seines Herrn befindet. Manchmal stirbt er auch. Manchmal gesundet er unter großen Qualen, wobei in der Regel das Trauma sein ganzes Leben nachwirkt. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

»Wie eine Enzyklopädie«, erwiderte Ywha ernst.

Als das Telefon klingelte, nahm der Referent den Hörer ab, um ihn gewohnheitsgemäß mit der Schulter ans Ohr zu pressen. »Vorzimmer Wyshna-Eins.«

Ywha beobachtete, wie seine Brauen vibrierten. Seine Stimme änderte sich jedoch um keinen Deut.

»Ja, Eure Durchlaucht, die Direktverbindung ist in der Tat abgeschaltet … Ja, Eure Durchlaucht, einen Augenblick, bitte.«

Er drückte einen Knopf. Jetzt sprach der Referent mit anderer Stimme, nicht trocken-höflich wie mit Ywha und, wie sich gezeigt hatte, auch mit dem Herzog, sondern verhalten und gehorsam, so wie er ausschließlich mit Klawdi sprach. »Es tut mir leid, Patron … Seine Durchlaucht ist am Apparat, Patron … Ja, Patron …«

Eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür von Klawdis Büro. Den Referenten ignorierend, nickte der wolkenfinstere Inquisitor Ywha nur kurz zu: »Gehen wir. Wir haben Arbeit.«

… Ein Flug wie ein Rausch, ein Fluss wie eine blaue Ader. Der Geruch der Wolken. Flocken tanzten um ihre Füße, durch Risse hindurch schimmerte die Erde. Über ihr glühte ein heißer Mond, prangte ein klar erkennbarer Ring in der leeren, funkelnden Ebene. Immer höher stieg sie auf …

Eisiger Wind nahm ihr den Atem. Der Mond kam und kam nicht näher. Ywha lachte. In ihrem Rücken flatterten ihre Haare, verflochten sich mit dem Wind und den Wolken. Sie streckte den Arm aus.