Die Magd erschrickt, sobald ich über mich spotte.
Also — ist doch nicht jeder Inquisitor ein Zauberer? Also — ist das Können eines Inquisitors keine magische Gabe? Welches sind dann aber jene unsichtbaren Fangseile, mit denen wir meine Herrinnen — die Hexen — bezwingen? Und warum richten wir mit ihnen bei anderen nichts aus?
Dem Vernehmen nach vermag sich ein Inquisitor, der sich eine Hexe gefügig machen kann, auch alle anderen gefügig zu machen. Gewiss — freilich nur in der Weise, wie ein jeder Mensch, der über die innere Kraft gebietet, sich andere gefügig machen kann. Kein Geheimnis umweht das Geschick eines Inquisitors, sich einen Freund zu Willen zu machen, eine geliebte Frau oder eine Handvoll Bürger. Dies gelingt ihm ohne Zuhilfenahme seiner Kraft, einzig mit seinem Willen. Hingegen bedarf es für die Verfertigung eines Geständniszeichens auf einem Stein mehr als des bloßen Willens vonseiten des Inquisitors.
Manchmal frage ich mich, in nächtlicher Trauer den Blick ins Feuer gerichtet, ob nicht auch die Hexen Zeichen verfertigen? Andere freilich, wiewohl welche, die ihrer Natur nach mit unseren vergleichbar sind. Sollte gar die Kraft des Inquisitors, welche uns gegeben ist, zum Kampfe gegen die Hexen, damit die Welt die jetzige bleibe, am Ende nur eine Widerspiegelung der Hexenkraft selbst sein?«
Ywha schlug das Buch zu.
Damit die Welt die jetzige bleibe. Es dämmerte bereits. Und jetzt konnte sie von dem Treffen mit Nasar mit Fug und Recht behaupten: Es findet heute statt.
Naiverweise hatte er angenommen, alles über Hexen zu wissen.
Er folgte Kosta, dem Inquisitor im Außendienst, einem hervorragenden Einsatzleiter. Vielleicht trübte gerade das seine eigene Aufmerksamkeit ein wenig. Vielleicht aber auch nicht; vielleicht lag es einfach daran, dass alles, was nun geschah, sein hervorragendes Reaktionsvermögen um einiges überstieg.
Kosta blieb stehen. Er hob den Arm, als wolle er sich verteidigen, und brach langsam, wie in Zeitlupe, seitlich zusammen.
In diesem Augenblick spürte es Klawdi ebenfalls.
Die Hexe war hier. Sie war nicht verschwunden, war nicht durch den Hintereingang entschlüpft.
Die in Rauch gehüllte Silhouette hätten sie nie wittern können. Sogar als sie zuschlug und Kosta niederstreckte, war Klawdi noch auf seine Augen angewiesen, denn seine Witterung schwieg, halb tot und verbrüht.
Nieder mit dem Abschaum.
Die Frau lachte. Sie wiegte einen grauen, paillettenbesetzten Schal, als sei es ein kleines Kind. Dann lachte sie wieder, und dieses Gelächter dürfte ihn vermutlich weitere graue Haare kosten. Da war er, der alte Albtraum, der allnächtlich wiederkehrte und in dem er eine Hexe traf, deren Kräfte die seinen überstiegen.
Allerdings war hier noch etwas anderes im Spiel. Was war das für eine seltsame, provozierende, unnatürliche Geste? Sie wiegte ein Halstuch …
Unsere Mutter, unsere ungeborene Mutter.
Sie lachte ein weiteres Mal auf.
Ihr Abgang erinnerte nicht an Flucht. Sie schien nicht einmal auf die Idee zu kommen, Klawdi könne sie verfolgen. Der Schal, der seine Rolle als Kind in diesem grausamen Spiel ausgespielt hatte, fiel zu Boden, neben den reglosen Kosta.
»Stehen geblieben!«
Obwohl er keinen Ton hervorgebracht hatte, hatte sie seinen Befehl laut und deutlich gehört. Sie drehte sich halb zu ihm zurück und bleckte lachend die Zähne.
Da schlug er zu.
Mit diesem Schlag hätte er ein halbes Dutzend Hexen zu Boden strecken können — doch die Hexe vor ihm lächelte bloß noch breiter. In der nächsten Sekunde bemerkte er allerdings den Riss in ihrem Verteidigungsvorhang. Jetzt konnte er sie wittern.
Aber nicht klassifizieren.
Eine Schildhexe? Eine Bannerhexe? Eine Kampfhexe?
»Stehen geblieben, du Miststück!«
Er machte ein schräges Loch aus. Einen Brunnen ohne Boden.
Es dämmerte bereits.
Auf ihrer Flucht berührte sie mit ihren weißen Füßen kaum den Asphalt. Klawdi stürmte zum Auto, wo der verzweifelte, bleiche Fahrer erfolglos versuchte, den bislang tadellosen Motor anzulassen. Klawdi stieß ihn vom Steuer weg, ließ sich auf den Fahrersitz fallen, biss die Zähne aufeinander, spannte die Muskeln an und setzte alles daran, das dumpfe Eisen dem Willen der Hexe zu entreißen. Zwei von Kostas Leuten saßen auf dem Rücksitz, einander ähnlich wie Zwillinge, und führten mit einer synchronen Bewegung in der Luft das Zeichen des Hundes aus. Sie waren zwar eine schwache Hilfe, aber besser als gar nichts.
Mitten auf der Fahrbahn rannte die Hexe die leere morgendliche Straße hinunter; ihre Füße zeigten nach wie vor das kindliche Schneeweiß. Er würde sie erschlagen. Falls er sie nicht schnappen konnte, würde er sie einfach erschlagen, sie überfahren …
Das Auto dachte nicht daran, ihm zu gehorchen. Ungeachtet seiner Anstrengungen, ungeachtet des Zeichens des Hundes und des speziellen Zeichens, das regelgerecht am Fahrzeugboden ausgeführt war. Klawdi hantierte wild mit dem Lenkrad, wich Laternen und der kleinen Betonmauer aus, die Fahrbahn und Fußweg trennte, während die Hexe leicht und spielerisch weiterrannte und sich der Abstand zwischen ihnen in keiner Weise verringerte.
»Und dann tritt sie in Erscheinung, diese monsterhafte Ausgeburt jener Kräfte, die dem Menschen feindlich gesonnen sind. Und sobald sie naht, verwandelt sich der Schwarm stechender Mücken in eine tödliche Armee erbarmungsloser Wespen …«
Konnte das sein?!
Hatte er tatsächlich keine andere Wahl, als die tänzelnd davonrasende Figur einer professionellen Stripperin zu erschlagen und ihren stolz erhobenen, dreckigen Kopf auf dem Asphalt zu zerschmettern, um damit den Albtraum der letzten Wochen zu beenden?
Das Auflodern seines Willens ließ das Auto endlich losschießen — und zwar so, dass die Konturen der Straße verschwammen und die beiden Männer auf dem Rücksitz gegen die Lehne gepresst wurden. Die Inquisition bevorzugte nun mal starke Motoren. Der Abstand zwischen Klawdi und der Hexe schmolz in wenigen Sekunden auf die Hälfte zusammen. Die Stripperin drehte sich um. In ihren Augen lag schallendes Gelächter. Wenn Klawdis Hände nicht mit dem Lenkrad verwachsen gewesen wären, hätte er sich die Ohren zugehalten.
Da wurde es im Wagen dunkel. Risse überzogen die Windschutzscheibe, ließen sie trüb und undurchsichtig werden. Instinktiv stieg Klawdi auf die Bremse. Die trainierten Männer im Fond brachten es fertig, ihm nicht ins Genick zu knallen, während er, ebenfalls — wenn auch vor ewigen Zeiten — trainiert, gegen das Steuer prallte und so der gewesenen Windschutzscheibe half, in lauter Scherben nach draußen zu rieseln.
Verdammt, er musste endlich sein Hirn gebrauchen!
Dem Schmerz konnte er sich später noch in aller Ausführlichkeit widmen.
»Patron?«
Immerhin erkannte er die Straße jetzt wieder klar und deutlich. Den roten Halbkreis der aufgehenden Sonne über den Dächern, die barfüßige Frau, die auf eine Kreuzung zurannte. Die in Sonnenlicht getauchten Schienen der Straßenbahn warfen rosafarbene Lichtreflexe auf den Asphalt. Das ferne Bahnhofsgebäude erhob sich als dunkelblaue Silhouette am Ende der breiten Straße, ruhig und schön.
Verlor er sie?!
Die Wut half ihm, seine Kräfte zu bündeln. Sein Wille stürzte hinter ihr her, schlängelte sich aus dem Auto, hängte der Hexe ein schweres, nicht zu stemmendes Gewicht an die nackten Füße. Oder versagte er doch?