Nein! Schon stolperte sie, drosselte ihr Tempo. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, was ihr vermutlich auch gelingen mochte; allerdings würde sie dafür einige Sekunden brauchen.
Wieder ließ sich die Straße links und rechts vom Auto nicht mehr erkennen. Wind peitschte ihm ins Gesicht, der nun auch noch das letzte Stück Glas der Windschutzscheibe eindrückte. Die Sonne ging vollends auf, verängstigt bremste der von der Arbeit zurückkehrende Wagen der Stadtreinigung, dessen Wassertank nun leer war. Die Hexe hinkte und befreite sich mit jedem Schritt von der unsichtbaren Last, die Klawdi gesandt hatte. Dennoch wurde der Abstand zwischen ihnen kleiner und kleiner. Schon machte Klawdi einen Riss im Saum des dünnen, hellen Kleides aus, schon erkannte er das Verteidigungsornament auf dem Ledergürtel, sah den langen Kratzer auf dem entblößten Schenkel und das rosafarbene Ohr, das durch einen Wust aus dunkel glänzenden Haaren stak.
Konzentriert stellte er sich auf das Duell ein. Vielleicht das wichtigste, vielleicht das entscheidende in seinem Leben. Vielleicht auch das letzte, so wie einst beim Inquisitor Atryk Ol.
Die Hexe blieb mitten auf der Kreuzung stehen. Unter einem Geflecht schwarzer Leitungen. Sie blieb stehen und drehte sich um; Klawdi fing ihren Blick auf.
Auch sie kannte das Schicksal Atryk Ols. Aber auch das Schicksal der Hexen, die ihn getötet hatten. Jetzt verharrte sie reglos, beobachtete, wie ein schwarzes Auto mit zertrümmerter Windschutzscheibe direkt auf sie zuschoss.
Nein, das stimmte nicht: Sie schaute seitlich an ihm vorbei.
Blickte zu einer schmalen, kopfsteingepflasterten Straße hinüber, aus der eine blaue Straßenbahn auf die Kreuzung zuzuckelte. Die erste Bahn des heutigen Tages, Linie 2, noch verschlafen und leer, näherte sich dem Bahnhof. In den quadratischen Fenstern spiegelte sich die tief stehende Sonne.
Gerade eben noch hatte die Hexe auf der Kreuzung gestanden — jetzt hing sie schon auf dem Trittbrett und umklammerte mit beiden Händen die vordere Fahrertür. Und bereits im nächsten Augenblick öffnete sich die blaue Falttür und ließ die Hexe ein.
Brüllend schickte ihr Klawdi einen Schlag hinterher, der jedoch, da er auch noch das Auto lenken musste, zu schwach ausfiel. Die beiden auf dem Rücksitz griffen nach ihren Pistolen. Spinnen die?!, dachte Klaw. Damit machen sie alles nur noch schlimmer!
Die Straßenbahn vibrierte. Zitterte, als leide sie Schmerzen — und fuhr weiter, überquerte die Kreuzung, somit alle Verkehrsregeln und die eigene Fahrstrecke ignorierend. Als sie leichthin über ein Gleis hüpfte, bemerkte Klawdi die an den Rädern aufstiebenden Funken. Die Straßenbahn brach aus, bog in die breite Straße der Industrie, gewann Fahrt und sauste den Hang hinunter.
Er riss das Lenkrad herum, trat das Gaspedal voll durch. Der Wind biss ihm in die Augen.
Die unvorstellbar lange Straße der Industrie fiel über die gesamte Strecke leicht ab. Die Straßenbahn fuhr inzwischen schnell wie ein Eilzug, ächzte, polterte von einer Seite auf die andere und zog einen Schweif braunen Staubs hinter sich her. Die geröteten Augen zusammengekniffen, erkannte Klaw durch die Scheibe die zur Salzsäule erstarrte Gestalt des Straßenbahnführers. Und auch die der stolz dastehenden Frau, die sich wie ein Denkmal neben ihm erhob. Klawdi wollte schießen, wusste jedoch, dass jede in eine Hexe gefeuerte Kugel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Augenzeugen in der Nähe getötet hätte — oder den Schützen selbst.
Die Straße der Industrie endete. Als sei einem unter den Füßen ein Teppichläufer weggezogen worden. Ohne das Tempo zu drosseln, flog die Straßenbahn um die Ecke.
Wie konnte Eisen nur ein solches Geräusch machen? Kein Quietschen, sondern ein Pfeifen, als ob tausend wahnsinnige Verkehrspolizisten in ihre Pfeifen pusteten, um die Hexe zur Vernunft zu bringen.
Wie ein Pferd, das sich aufbäumte, riss die Straßenbahn sämtliche Räder auf der linken Seite von den Schienen. Noch in der Luft drehten sie sich wie verrückt.
Mit aller Kraft trat Klawdi aufs Gas, raste weiter, als wolle er den auf die Seite stürzenden Koloss stützen. Bedauerlicherweise hatte er nur Macht über Hexen. Über öffentliche Verkehrsmittel fehlte sie ihm.
So krachte die Straßenbahn um. Die Erde bebte, ein Schaufenster in der Nähe zersprang, die Straßenbahn überschlug sich, streckte die Räder gen Himmel und zerquetschte die am Straßenrand geparkten Autos; daraufhin überschlug sie sich ein zweites Mal, wobei es für kurze Zeit so aussah, als würde sie gegen die Fassade des Hauses mit dem zersplitterten Schaufenster knallen, am Ende reichte die Fallkraft dafür jedoch nicht aus. Die Straßenbahn konnte kaum noch als solche bezeichnet werden. Eine verkrüppelte Leiche war sie nun, die zurückpolterte, hinein in die völlig unschuldigen Autos, diese in einen Brei aus Glas und Metall verwandelnd, während die Erde erneut bebte.
Klawdi sah sich selbst, wie er dasaß, sich verzweifelt am Armaturenbrett abstützte, das Bremspedal immer noch bis zum Anschlag durchtrat, obwohl das Auto bereits hielt, im Fond Leere klaffte und beide Türen offen standen.
Die Sonne war aufgegangen, das Rot dem Gold gewichen.
Der Straßenbahnführer starb im Krankenhaus.
Zwei Fahrgäste, die die erste Straßenbahn hatten nehmen wollen, sollten überleben, weitere Personen waren am Ort der Katastrophe glücklicherweise nicht zugegen gewesen.
Von der Hexe fehlte jede Spur.
Das Lampenschirmschiff leuchtete. Auf den Wänden der Studentenbude lagen bizarre Schatten. Ywha wollte dem alten, vertrauten Zimmer zulächeln, schaffte es aber nicht.
Ein Gefühl unermesslicher Schuld quälte sie. Mit keinem Wort oder Blick hatte Nasar ihr einen Vorwurf gemacht. Dennoch spürte Ywha, wie mit jeder Sekunde seiner Anwesenheit die Last ihrer Schuld zunahm. Die Begegnung genießen — dazu war sie nicht mehr imstande.
Sie schämte sich, ihm in die Augen zu sehen. Dabei wollte sie ihn mit Blicken verschlingen, gierig jede Nuance, noch den kleinsten Abdruck der getrennt von ihr verbrachten Tage in sich aufnehmen.
Am Ende brachte sie doch noch ein Lächeln zustande. Sie setzte sich aufs Sofa, diesen Zeugen unzähliger leidenschaftlicher Nächte. »Kann ich einen … Tee bekommen?«
Nasar nickte ernsthaft und verschwand in der Küche. Wie sehr Ywha diese Begegnung herbeigesehnt hatte! Und jetzt verbarg sie ihr Gesicht in den Händen …
Eine halbe Stunde vor dem Wiedersehen war sie halb tot vor Nervosität gewesen. Am meisten hatte sie sich davor gefürchtet, Ekel in seinem Blick oder seinen Gesten zu entdecken, weshalb sie mit einem gekünstelten Lachen ohne Umschweife erklärt hatte: »Du brauchst keine Angst zu haben. Nicht initiierte Hexen unterscheiden sich durch nichts von anderen Menschen. Nicht mal physiologisch. Wenn du willst, frag Starsh danach.«
Diese Worte bewiesen einmal mehr, wie sehr sich Ywhas klarer Verstand in der Zeit, da sie diese Begegnung herbeigesehnt hatte, getrübt haben musste, andernfalls wäre sie kaum auf solche Dummheiten gekommen. Nasar blickte finster drein, sagte jedoch kein Wort.
Jetzt saß sie auf dem Sofa, bedeckte das Gesicht mit den Händen, während durch die kalten Finger das transparente Zauberlicht des Schirmschiffs fiel. Nasar hantierte in der kleinen Küche. Das Klappern des Geschirrs kam Ywha wie eine spöttische Antwort auf ihren Traum vor: auf ihre kleine und warme, gemütliche Idealwelt, in der ein Lampenschirm leuchtete und der geliebte Mann ihr in der Küche Tee kochte.