In der Luft hing ein Hauch des Falschen.
Als ob jemand, der sein ganzes Leben lang die magische Erinnerung an die in der Kindheit verlassene Stadt hütet, irgendwann beschließt, in die staubigen, schweißigen und wuseligen Straßen zurückzukehren, dann aber vor der Tür seines Geburtshauses von einem Fuß auf den anderen tritt und verzweifelt den Griff des Koffers, der mit einem Mal sehr schwer scheint, umklammert. Ein unwiederbringlicher Verlust, das ist nicht nur der Tod. Genauer: Es gibt noch andere Formen des Todes, darunter einen Tod, bei dem sich äußerlich nichts ändert und selbst der Tote nicht auf Anhieb bemerkt, dass sich für ihn etwas geändert hat.
Nasar kam mit zwei dampfenden Tassen zurück. Er stellte das Tablett auf dem Tisch ab, setzte sich auf einen runden Drehhocker in der Ecke und stützte die spitzen Ellbogen auf die nicht minder spitzen Knie.
Ihre Phantasie klammerte sich noch immer an die Bruchstücke ihres Traumes. In jener Welt, die sie sich wieder und wieder ausgemalt hatte, hatte Nasar neben ihr gesessen und nach ihrer Hand gegriffen. Da sie ihrem Traum nachhelfen wollte, wäre sie am liebsten aufgestanden, zu Nasar gegangen und hätte ihm die Hände auf die Schultern gelegt. Im letzten Augenblick schreckte sie jedoch zurück, sackte erschöpft in sich zusammen und konnte gerade noch einen schweren Seufzer unterdrücken.
Sie nahm seinen Duft wahr. Sein Pulloverkragen verströmte den Geruch eines herben, ihr unbekannten Eau de Colognes, und diese fremde, sie überspülende Woge verdrängte das gewohnte Aroma seiner Haut und seines Haars. Ywha seufzte tief, ihre Nasenflügel blähten sich und versuchten, den durch das ganze Zimmer wabernden Duft einzufangen. Als Nasar das bemerkte, schien er zu erschaudern. Oder kam ihr das nur so vor? Oder zeigte ihr Misstrauen inzwischen krankhafte Züge?
In ihrer ausgedachten Welt hatte Nasar ununterbrochen geredet. Gelacht, ihre Hand gestreichelt und sie tausend Mal für das um Verzeihung gebeten, was sie, Ywha, sich hatte zuschulden kommen lassen.
Seit sie sich getroffen hatten, waren einunddreißig Minuten vergangen. Erbarmungslos zirkelte die alte Uhr an der Wand die Zeit ab. Voller Panik begriff Ywha, dass nichts von alldem passieren würde, so als säße sie geradezu in einem leeren, vernagelten Kasten.
Plötzlich wollte sie, dass irgendetwas geschah — und sei es etwas Schlechtes.
»Wie geht es Professor Mytez?«, fragte sie deshalb und rang sich ein Lächeln ab. »Was macht mein Schwiegervater?«
Nasar sah auf. Zum ersten Mal seit zweiunddreißig Minuten blickte er Ywha in die Augen. Kurz hielt sie den Atem an.
Denn in Nasars Blick lag weder der Vorwurf, mit dem sie gerechnet, noch der Ekel, den sie befürchtet hatte. Es war ein Blick wie eh und je, nur unsagbar müde, gequält und traurig.
»Ich kann ohne dich nicht leben, Ywha …«
Den Tee tranken sie dann doch nicht. Mehr noch, eine der Tassen fiel vom Tisch und hinterließ auf dem Läufer eine dunkle Pfütze, die nicht trocknen wollte. Das Schirmschiff segelte ungerührt unter dem weißen Himmel der Decke dahin, während im Zimmer ein heftiger, teilweise schon hysterischer Sturm tobte.
Der widerborstige Reißverschluss an Ywhas alten Jeans hatte den Gefühlsausbruch nicht überstanden, denn Ywha hatte ihn kurzerhand zerrissen. So brennen Brücken nieder. Ein Stück nach dem nächsten riss Ywha sich vom Leib. Alles um sie herum drehte sich, als wenn sie betrunken wäre; über den Boden hüpfte ein einzelner Knopf von Nasars Tennisshorts. Jeans und Pullover fielen auf den Teppich, die gestreiften Socken rollten sich ein wie zwei erschrockene Igel. Nasars Hosen boten eine phänomenale Pirouette, auf ihnen landete eine Spange aus Ywhas rotem Haar. Das Schiff schwamm dahin und beleuchtete das Zimmer mit seinem intimen, rätselhaften Licht.
»Ohne dich … kann ich … nicht …«
Im nächsten Moment lagen sie auf dem Sofa. Danach schaukelten sie durch das ganze Zimmer, umarmten sich, lachten Tränen und wälzten ihre zu Boden geworfene Kleidung platt. Am Bein des runden Hockers erlebten sie den Höhepunkt ihres Liebesspiels, anschließend landeten sie, ohne sich voneinander zu lösen, wieder auf dem Sofa, unter der Decke, aneinandergeklammert wie zwei Milben, die durch den Liebesentzug beinahe zu Tode gekommen wären.
»Nasaruschka … ich …«
Er roch jetzt nach heißem, frischem Schweiß. Ywha inhalierte seinen Duft wie eine dumme Katze Baldriantropfen. Die Bettdecke zitterte wie das sturmgepeitschte Meer. Das Schiff drehte sich gemächlich einmal um die eigene Achse, den spitzen Bugspriet vorgereckt. Um das Schiff herum tanzte ein schwarzer Schmetterling, der im Vergleich zu dem kleinen Segel unnatürlich groß wirkte. Unter dem Gewicht des schweren, lodernden Körpers begriff Ywha sofort, dass ihre gesamte bisherige Existenz nur ein Vorspiel für diesen Augenblick echten Lebens gewesen war. Und von ganzem Herzen wünschte sie, es möge ewig andauern.
Am Morgen regnete es.
Ywha lag auf dem Rücken, die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Sanft prasselte der Regen gegen die Metallverblendung überm Fenster. Nasar schnaufte genüsslich und hatte die Hand katzenartig vors Gesicht gelegt. Sonst aber gab es in dieser Welt keinen Laut, kein Geräusch.
Ywha lag wach.
Durch die fest geschlossenen Gardinen drang das Dämmerlicht nicht herein. Obwohl es im Zimmer dunkel war, wusste Ywha, dass der verregnete Himmel bereits graute. Vielleicht würde der Wind die Wolken ja bald auseinandertreiben. Und vielleicht käme auch die Sonne noch heraus.
Sie schloss die Augen. Ein unbekannter, unangenehmer Schmerz saß ihr in der Brust. Nie in ihrem Leben hatte sie irgendwas am Herzen gehabt. Aber natürlich gab es für alles ein erstes Mal.
Sie wollte den Arm heben und sich die Rippen auf der linken Seite reiben, fürchtete jedoch, Nasar zu wecken.
In ihrer Kindheit hatte sie sich gefragt, wie sich wohl die Matrjoschkas fühlten, so ineinandergesteckt, die kleinere immer in der größeren, bis zur allerwinzigsten am Ende. Was mochte eine dieser Puppen fühlen, wenn sie sich aus dem Leib ihrer Vorgängerin schälte und sich gewissermaßen von außen betrachtete?
Jetzt entschlüpfte Ywha sich selbst wie eine Matrjoschka. Von außen sah sie eine rothaarige Frau, die mit einem schlafenden Mann im Arm dalag. Ein schmerzliches Vorgefühl ließ sie den Atem anhalten.
Es war bereits Morgen. Die rothaarige Frau hatte kaum ein Auge zugetan — doch während eines kurzen Traums hatte sie die Baumkronen eines Waldes gesehen, der sich weit unter ihr erstreckte, die verrauchten Gänge eines brennenden Theaters und die Schatten der tanzenden Tschugeister. Gestern Abend hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben gewünscht, die Zeit anzuhalten. Die Zeit hatte ihr jedoch nicht gehorcht — und recht hatte sie damit getan.
Der Mann … Nein, er hatte sich nicht verändert. Er war in der Zeit ihrer erzwungenen Trennung keineswegs gealtert. Ywha beobachtete, wie das selige Glück nach und nach von seinem schlafenden Gesicht kroch. An der Nasenwurzel entstand eine Falte, die Mundwinkel zogen sich traurig nach unten. Nasar träumte von der Wahl, die er am heutigen Morgen treffen musste. Ein unangenehmer, Besorgnis erregender Traum.
Entsetzt registrierte Ywha, dass sich das Vorgefühl in ihrer Brust gerade in Wissen verwandelte.
Sie wollte die Augen schließen, die unvermeidliche Einsicht wegblinzeln — aber wenn sie ihrem Schicksal nicht in die Augen sah, würde es sie unter Garantie einholen und ihr in den Rücken treten. Vielleicht auch etwas tiefer. Ywha holte Luft und ließ das Wissen um den Verlust in sich einsickern.