Selbstverständlich hätte er das Mädchen eigentlich nicht gehen lassen dürfen. Es war ihm jedoch schlicht zuwider gewesen, es vor diesen beiden Romantikern, Mytez senior und junior, zu einer beispiellosen Szene der Gewalt kommen zu lassen. Und es wäre ihm auch peinlich gewesen, den alten Freund mitansehen zu lassen, mit welch professionellem Geschick er Druck auf jemanden ausüben konnte. In diesem Fall auf eine junge Frau, die für die beiden keine Fremde war, die ihnen ans Herz gewachsen und zu einer der Ihren geworden war.
Voller Schmerz verzog er das Gesicht, als er sich daran erinnerte, wie Nasar geweint hatte, in einer Ecke kauernd, untröstlich und kindlich. Wie unangemessen sich die kläglichen Versuche seines Vortrags zu dem Thema »Eine Hexe ist auch ein Mensch« ausgenommen hatten.
Julian nahm ihm die Sache ganz ohne Frage übel. Und hatte er nicht auch wirklich das Recht, von seinem Freund in einer schweren Stunde Hilfe zu erwarten — statt dieser banalen Erläuterungen? Tatsächlich hätte er, Klawdi, Hilfe leisten können, indem er Nasar einige Fälle aus der Praxis geschildert hätte, damit dieser, der gestern noch so verliebt gewesen war, sich wieder zu ihnen ans Lagerfeuer hätte gesellen können.
Die Straße machte eine Kurve. Klawdi bremste ab. Am Rand parkte ein Wagen der Tschugeister, ein helles Auto mit einem gelb-grünen Blinklicht auf dem Dach.
Er drückte die zu Ende gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und vertrieb den angewiderten Ausdruck, der sich unwillkürlich auf sein Gesicht geschlichen hatte. Zwei kräftige Männer stopften etwas in einen Plastiksack, das noch vor Kurzem eine Njawka gewesen war. Ein dritter stand an der Straße und rauchte ebenfalls. Der grüne Graf interessierte ihn nicht mehr als ein sich rasch auflösender Nebel.
Klawdi unterdrückte den Wunsch anzuhalten. Schließlich mischte sich der Tschugeister-Dienst ja auch nicht in die Belange der Inquisition ein. Wer auch immer die Unglückselige gewesen sein mochte, deren Überreste nun in dem Beutel landeten, davor war sie jedenfalls eine Njawka gewesen, eine wandelnde Leiche, ein Wesen, das den Tod brachte.
Etwas schüttelte ihn. Der Wagen mit dem Blinklicht und die Menschen am Straßenrand lagen bereits weit hinter ihm, er rauchte eine Zigarette nach der anderen und tastete im Handschuhfach nach einer neuen Schachtel, die er vor sich selbst versteckt hatte.
(Djunka. Juni)
»Willst du wissen, auf wen die Ameise zukrabbelt? Die krabbelt auf dich zu.«
Der Sand hatte eine seltsame Farbe. Grellgelbe Flecken wechselten mit hellgrauen, eine feste Kruste, die noch von dem gestrigen Regenschauer zeugte, knackte erwartungsgemäß unter den nackten Füßen, und in diesen Mulden ihrer Fußspuren hielten die Ameisen Hof, friedliche, schwarze Tiere, die nicht bissen.
»Wollen wir zum anderen Ufer rüberschwimmen?« Djunka lächelte.
All das musste schon einmal jemand erlebt haben. Der warme Sand gab in allzu vertrauter Weise unter den Füßen nach. Es roch nach Wasser und nach Weiden.
»Hier ist es doch schön«, antwortete er verblüfft. »Oder nicht?«
(Seine berühmte Intuition schwieg, als sei sie taubstumm.)
Djunka steckte sich die Haare hoch. Er staunte jedes Mal, wie sie so klar artikulieren konnte, während sie ein halbes Dutzend Spangen im Mund hielt.
»Was ist jetzt? Wollen wir rüber oder nicht?«
Am anderen Ufer standen Kiefern. Fünf hohe Bäume, die es aus unerfindlichen Gründen in das Reich der Weiden verschlagen hatte. Über den nadelbedeckten Sand rannte ein großes Eichhörnchen.
»Du weißt doch, was für einen Schwimmer ich abgebe.« Gedankenversunken rieb er sich die Nasenspitze.
Djunka klimperte mit den Augen. Ihren Klassenkameraden gegenüber verhielt sie sich ganz ungezwungen, aber bei Klaw versetzte sie jedes missverstandene Wort in Panik. Diesmal hatte sie offenbar seine Eitelkeit angekratzt, denn bis zum anderen Ufer würde er es in der Tat nicht schaffen.
»Gut, dann nehmen wir das Boot …«
Das sogenannte Boot gehörte drei jungen Männern, die auf drei abgenutzten Strandmatten lagen und auch die Besitzer der drei Motorräder im Hintergrund waren. Sie tranken Limonade und verschoben träge irgendwelche Spielsteine. Unmittelbar am Wasser lag ein riesiger Schlauch von einem LKW-Reifen, der teilweise schon trocken und so grau wie Asphalt, teilweise aber noch nass und schwarz wie eine Robbe im Zoo war. Klaw zog die Brauen hoch. Sein gesunder und nüchterner Menschenverstand verbot es ihm, diese drei Kerle um etwas zu bitten.
Aber Djunka stapfte bereits los, wanderte direkt zu den dreien hinüber. Eifersüchtig registrierte Klaw, wie sich drei trübe Augenpaare von den Spielsteinen losrissen und wie in ihnen, in diesen Blicken, ein Feuer aufloderte, das Klaw förmlich herausforderte. Djunka ging jedoch unbeirrt weiter, in ihrem schlangenfarbenen Badeanzug, während sie diese dämliche hochaufragende Frisur wie eine Kanne auf dem Kopf balancierte.
Klaw verkrampfte sich. Ein Spaß war ja gut und schön, aber wenn sich diese Kerle das herausnehmen sollten … oder etwas, das Klaw dafür hielt …
Doch nein, das taten sie nicht. Nicht bei Djunka. Sie verhandelte bereits mit ihnen, zeigte auf das Boot. In ihrer Stimme lag weder Verlegenheit noch Provokation, weder aufgesetzte Lockerheit noch Angst. Djunka verstand es, für alle und jeden den richtigen Ton zu finden, für das Schaf in der Koppel genauso wie für den Wolf im Wald oder den Direktor ihrer Schule, Herrn Fedul. Und allem Anschein nach bereitete ihr keine der Situationen auch nur die geringste Mühe.
Schwerer fiel es ihr, mit Klaw eine gemeinsame Sprache zu finden. Sie hatte eine panische Angst davor, ihn zu verletzen. Nie wollte es ihr gelingen, ihre Zuneigung auch nur ansatzweise zu verbergen — und das stellte ihre Achillesferse dar. Das schwächte sie, denn eine Frau sollte nicht zu leicht zu erobern sein.
Sobald der Schlauch auf dem Wasser schaukelte, verlor er seine graue Farbe. Nun glänzte er so schwarz wie ein Meeresungeheuer.
»Herr Starsh wird aufgefordert, sich an Deck zu begeben! Herr Starsh, sämtliche Ratten haben das Schiff bereits verlassen, Sie können die Kapitänsbrücke also getrost betreten! Hey, Herr Starsh, wenn Sie noch eine Sekunde länger zögern, probt die Mannschaft den Aufstand! Hey, Klaw, hiss das Segel, bring mir eine Buddel Rum und pack das Gold in unsere Truhen. Yohoho, hol den Anker ein!«
Da er Angst vorm Wasser hatte, klammerte er sich schon an den Schlauch, selbst als seine Füße noch Halt am Grund fanden. Das Wasser spritzte auf, denn Djunka schlug mit den Armen, sie zerhackte die Sonnenreflexe, tauchte ins Wasser und funkelte mit dem schlangenfarbenen Badeanzug. Klaw stockte der Atem. Djunka bezeichnete sich gern als Seeschlange. Bislang war Klaw jedoch nicht klar gewesen, welch erotische Anziehungskraft diese Schlangen besaßen.
Er kniff die Augen zusammen. Jäh ging ihm auf, dass er glücklich war, dass er den Augenblick eines außerordentlichen Glücks genoss, den er aber nicht festhalten konnte, sondern an den er sich nur lange, lange Jahre würde erinnern können.
Djunka spürte seine Stimmung. Sie hörte auf zu toben und stieß den Reifen konzentriert vom Ufer weg, näher an die Schilfwand heran, wo in einem löchrigen Kahn ein älterer Angler pittoresk schlummerte.
»Weißt du was, Klaw?«
Ihre Stimme klang ein wenig heiser. Das mochte vom kühlen Wasser herrühren oder von ihrem piratenhaften Gehabe.