Von allen Seiten eilte man herbei.
»Verfolgt dieses Geschehen jemand, so wird er sich befremdet zeigen, verängstigt. Ein jeder Inquisitor bezwingt jedwede meiner Herrinnen, ohne sie auch nur zu berühren, allein durch einen lautlosen Befehl. Zeichen werden in Stein gemeißelt, in Eisen geprägt. Diese Zeichen dienen uns dazu, meine Herrinnen zu bändigen. Ein solches Zeichen ist ein Schild, bisweilen auch eine Spitze. Im offenen Kampf taugen sie indes nichts. Manchmal hinterlässt einer meiner Brüder, von Verzweiflung aufgerieben, ein Zeichen direkt in der Luft, wiewohl dies ein Akt ist, der seine Kräfte zumeist übersteigt, von Hoffnungslosigkeit zeugt und nur selten zum Sieg führt. Ein Zeichen, in die Luft gemalt, verlangt uns viel ab, doch es gibt uns wenig zurück.
Heute musste ich, nachdem ich die Treppe hochgestiegen war, erstmals innehalten, um zu verschnaufen. Die Jahre … Die Köchin hat für den Winter fünf Fässlein Milchlinge eingesalzen, des Weiteren fünf Fässlein mit allerlei Gemüse sowie ein Dutzend Räucherschinken aufgehängt.
Ich sträube mich gegen das Herbstende. Schreckliche Vorgefühle suchen mich heim …
Ich hätte die drei Hexen vor dem Scheiterhaufen retten sollen, und jene, die den Brunnen vergiftet hat, hätte in ihrer Gemeinde vor Gericht gestellt werden müssen.
Die Jahre beugen meine Schultern. Was werde ich meinem himmlischen Richter sagen, wenn ich vor seinen Thron trete? Dass ich mein Lebtag damit zugebracht habe, meine Herrinnen zu töten? Weil sie gleichfalls töten?
Warum habe ich mir diese Last aufgebürdet? Eine Vision quält mich: Ich stehe auf einem Scheiterhaufen, den ich selbst errichtet habe …
Die Schuld meiner Herrinnen — der Hexen — wiegt schwerer als die meine […]. Das werde ich meinem himmlischen Richter sagen, möge er sie wägen …«
Das Klingeln des Telefons erschien ihr unerträglich laut. Den ganzen Tag hatte niemand angerufen, den ganzen Abend hatte sie in Stille zugebracht, mit dem Tagebuch eines Mannes, der vor vierhundert Jahren gestorben war. Noch bevor sie den Hörer abnahm, wurde ihre Hand feucht.
Nasar? War er beleidigt? Verurteilte er sie? Wollte er sie sehen?
Der Hörer war schwer und kühl. Vermutlich würde Ywha bis ans Ende ihrer Tage Telefone hassen. Weil sich Anrufe nicht ankündigten und so verräterisch neutral daherklingelten.
»Ich brauch dich. Sofort.«
Klawdi.
So komisch das klingen mochte: Sie war erleichtert.
Sie wurde gebraucht.
Die Hexe trug weite Hosen und ein Seidenhemd unter einem streng geschnittenen Herrenjackett. Da ihr, bedingt durch Starshs Anwesenheit, Blut aus der Nase tropfte, hielt sie sich die ganze Zeit ein kariertes Taschentuch vors Gesicht, das inzwischen kaum noch zu gebrauchen war. Aus ihrem Versteck heraus verfolgte Ywha das gesamte Verhör, und mehr als einmal lief es ihr vor Ekel kalt über den Rücken. Nie zuvor hatte sie Klawdi so erlebt. Jetzt war er ein Inquisitor, und zwar bis ins Mark hinein. Als sei die schwarze Kapuze mit den Sehschlitzen seinem Gesicht angewachsen. Er war schrecklich anzuschauen. Doch was das Schlimmste war: Selbst Ywha, die doch an seine Nähe gewöhnt war, spürte nun seinen Druck und musste ständig Brechreiz und Kopfschmerz bezwingen.
»Darüber denk nach. Und auch darüber, was dir bevorsteht.«
»Ich spucke auf euch! Mir jagt ihr keine Angst ein!«
»Natürlich, ich sehe, wie du spuckst, Kampf hexe! Dein Schutz ist nicht stärker als eine Eierschale! Zwing mich also nicht, ein Omelett zuzubereiten.«
»Was wollen Sie denn?« Trotz ihrer Bösartigkeit kostete das Verhör die Hexe alle Kraft. Ywha presste die Finger zusammen und hoffte, es möge schnell vorbei sein.
»Namen.«
»Die kenne ich nicht.«
»Namen! Den Namen deiner ungeborenen Mutter! Oder ist sie inzwischen schon geboren?«
Die Hexe torkelte.
»Steh auf, Kampfhexe! Hat deine Mutter dich gerufen? Ruft sie dich vielleicht auch in diesem Augenblick?«
»Nein …«
»Hör mir zu, Julija! Sieh mich an! Denk jetzt verdammt noch mal an etwas Gutes! Ywha!«
Der Schrei ließ Ywha zusammenfahren. Sie wartete eine neue Kopfschmerzattacke ab und schob mit zwei Fingern den Vorhang zur Seite, der mit dem Zeichen versehen war. Als sie aus ihrer Nische heraustrat, befand sich die Hexe schon in Trance, während Klawdis Hände auf ihren Schultern lagen.
»Höre den Ruf, Ywha. Wir brauchen das Grundmotiv, das, was sie freut. Das, was sie wärmt, was sie liebt, verflucht noch mal!«
»Quälen Sie sie nicht!«, bat Ywha leise.
»Wie bitte?!«
»Sie behandeln Sie wie ein Tier.«
»Ach ja?! Und die fünf Kinder, die im Zirkus umgekommen sind? Und die neun Menschen, die im Hospital gestorben sind? Und die vier Jungen, die spurlos verschwunden sind, die unzähligen Schwerverletzten, die auf alle Krankenhäuser der Stadt verteilt sind? Was ist mit denen?«
Verblüfft registrierte Ywha, dass Klawdi nicht nur seine übliche Gelassenheit eingebüßt hatte — er tobte förmlich.
»Denkst du auch an die? Ist dir klar, dass wir jetzt alle Hexen einsperren müssen? Und die aktiven müssen wir … ich weiß nicht, was … vielleicht erschießen! Auch dich müssten wir ins Gefängnis stecken, denn die Mutterhexe könnte genauso gut in dir stecken! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Finde sie, Ywha! Finde die Mutterhexe!«
»Regen Sie sich nicht auf«, sagte Ywha zu ihrer eigenen Überraschung. Sie bemerkte, wie die Augen in den Sehschlitzen auffunkelten.
»Was?!«
»Beruhigen Sie sich. Hysterie hilft uns nicht weiter. Das stimmt doch, oder? Und Sie bereiten mir entsetzliche Kopfschmerzen. Und ihr …« Sie zeigte auf die Hexe. »… auch. Reißen Sie sich zusammen, Großinquisitor.«
Sie wusste nicht, ob die Wärter in den Nischen sie gehört hatten. Zumindest drang von dort kein Laut herüber. Eine ganze Weile lang durchbrach nur der abgehackte Atem der in Trance liegenden Hexe die Stille im Verhörraum.
»Danke«, sagte Klawdi tonlos. »Vielen Dank für den guten Rat. Ich werde ihn beherzigen, davon darfst du ausgehen. Und jetzt an die Arbeit!«
Er nahm der Hexe das zerknitterte karierte Taschentuch aus der Hand und tupfte ihr sanft und ohne jeden Ekel die blutigen Lippen ab.
Das Verhör endete gegen Morgen. Ywha fühlte sich, als habe sie in der Kanalisation gebadet.
Die junge Hexe war von Leidenschaften zerfressen. Die Motive der Menschen hielt sie für einen warmen Brei, ähnlich jener Brühe, die sich nach einem Regen am Grund aufgegebener Baugruben sammelt.
… In — warum auch immer — schwarz-weißen Bildern sah Ywha riesige Menschenmengen vor sich. Ein Geflecht aus Gerüchen und Geräuschen, ein zerrissenes Netz aus Stimmen. Sich in innerer Anspannung krümmend, legte Ywha unsichtbare Hände auf die Menge. Sofort spürte sie, wie die in Panik erstarrten Figuren ihre Haut reizten. Sie schloss die Finger ein wenig, um sie dann wieder zu spreizen. Kaum vermochte sie den Wunsch, die Faust zu ballen, zu unterdrücken. Aus diesem Balanceakt an der Grenze der Ekstase zog sie ein unfassbares Vergnügen.
Dann endete alles. Jetzt war sie ein Kind, genauer gesagt, gleichzeitig mehrere Kinder. Ein Mädchen im weißen Ballkleid, das mitten in einem leeren Saal stand; ein nackter Junge, ein Baby, in der undurchdringlichen Dunkelheit eines riesigen Zimmers und ein bis auf die Knochen durchgefrorener Teenager in klatschnasser Kleidung. Und anscheinend, o ja, anscheinend noch jemand … Das Mädchen ging, die Füße in den engen Schuhen vorsichtig setzend, und lauschte auf die Stille, wartete angespannt auf einen Ruf. Der Junge krabbelte stur über den kalten und glatten Fußboden, da er vor sich etwas Warmes spürte. Und der Jugendliche stapfte knietief durchs Wasser, voller Hoffnung, am Horizont endlich Licht zu sehen.