»›… möchte ich umgeben von Bienen sein, die über dem Blütenstand summen‹«, sagte er laut. Dann nahm er Ywhas Arm und trat mit ihr zum Fahrstuhl.
Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Die ganze Zeit über schliefen sie auf dem Rücksitz. Klawdi war sofort und tief eingeschlafen, während Ywha vor sich hin döste, ab und zu mit dem Gesicht gegen die Scheibe sackte und dann nur schwer die Lider aufbekam. Gemüsegärten, Häuser, Landstraßen …
Der Taxifahrer bremste an einer Gabelung, überlegte kurz und bog dann nach rechts ab. Schlagartig endete die Straße, die nunmehr zwei überwachsene Spuren, gefurcht durch ungemähtes Gras, ersetzten. Der Fahrer hielt vor einem dunklen Tor, das sich ungeachtet seiner bereits abblätternden Farbe inmitten eines verfallenen Zauns stolz erhob. An ihm prangte ein recht neues Schild: Flussstr. 217.
Klawdi, dessen Augen einfach nicht offen bleiben wollten, sperrte das Tor wie in Zeitlupe mit einem Schlüssel auf, der an einem klirrenden Bund hing. Ywha wartete. Das Ganze wirkte wie ein altes und ebendeshalb gewichtiges und bedeutendes Ritual — gemächlich ein Tor aufzuschließen, das doch in freier Flur dastand. Am Fuße einer der verfaulten Holzsäulen wuchs ein rotköpfiger, vom Gras halb verdeckter Pilz.
Quietschend taten sich die Flügel auf. Der eine hing bereits nur noch an einer, der letzten intakten Angel, was Klawdi jedoch nicht daran hinderte, Ywha galant den Vortritt zu lassen.
Im Haus roch es muffig. Eine erschrockene Maus huschte vom Tisch. Zu dem Krachen des herunterfallenden Krugs gesellte sich ein melodischer Klingelton. Ywha fuhr zusammen. Klawdi holte sein Handy aus der Tasche.
»Hljur … Nein, ich will das jetzt nicht hören. Ich weiß … Ich brauche zwanzig Stunden … Nein. Geh davon aus, dass ich in dieser Zeit tot bin.«
Das auf kleinen Sandbänken wachsende Schilf ertränkend, versteckte sich der Fluss hinter niedrigen krummen Weiden. Am Ufer gab es einen kleinen Steg, der schon völlig morsch war, ganz so wie das Tor und das Haus selbst. Klawdi hämmerte mit einem Stein den gefährlich hervorstehenden Kopf eines verrosteten Nagels ein.
»Es ist kalt«, sagte Ywha mit nervösem Lachen. »Und das Wasser ist auch kalt.«
»Das Wasser ist warm«, widersprach Klawdi ernst.
Am gegenüberliegenden, nicht mit Schilf bewachsenen, dafür aber schlammigen und morastigen Ufer spazierten weiße Gänse.
»Ich habe keinen Badeanzug.«
»Und ich habe noch nie eine nackte Hexe gesehen!«
»Machen Sie sich nicht lustig!«
»Gut, ich drehe mich um. Vor den Gänsen schämst du dich aber nicht?«
Ywha warf ihre Kleidung auf den Steg. Ängstlich zu Klawdi hinüberschielend, der demonstrativ in die Ferne sah, tastete sie sich bis zum Rand vor und wäre sicher nicht gesprungen, wenn nicht der verfaulte Steg, durch ihre Zweifel beleidigt, durchgebrochen wäre. Aufkreischend landete Ywha im Fluss.
Das Wasser war sauber. Glasklar. Es hüllte einen sauberen Körper ein. Sauber bis hin zum Muttermal und den Haaren …
Ywha erkundete den Grund mit den Füßen. Obwohl sie zusammenzuckte, als die Algen sie berührten, stellte sie sich hin und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die Gänse formierten sich und rückten langsam übers Wasser vor.
»Pass auf, die schwimmen auf dich zu!«, warnte Klawdi sie nervös.
»Ja, und?«
»Ich habe Angst vor ihnen.« Sie hörte echte Nervosität aus der Stimme des Großinquisitors heraus.
»Vor Gänsen?«
»Die kommen immer näher, die Mistviecher!«
Ywha tauchte unter. Sie öffnete die Augen. Die Welt wirkte irreal und verschwommen. Es ekelte sie nicht mehr, wenn die Algen sie berührten; um Ywhas Schenkel kreiste eine Schar kleiner Fische, die ab und zu silbern auffunkelten.
Dann schoss sie in gestreckter Haltung nach oben und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Der Inquisitor — ein Anblick, wie er im Buche steht: der Großinquisitor in gestreifter Badehose — saß am Rand des Stegs. Die helle Haut stellte mit ihrem Weiß eine Beleidigung für alle dar, für den Sommer, die Sonne, die unzähligen Badeorte, die die Oberste Inquisition angeblich überall unterhielt. Die kleinen Büroangestellten sind vermutlich schon alle schön braun, dachte Ywha mit überraschender Empörung.
»Angeblich haben tapfere Männer alle eine behaarte Brust und behaarte Beine.«
»Und? Was schlussfolgerst du daraus? Bin ich nicht tapfer oder rasiere ich mir die Beine?«
»Ich schlussfolgere, dass es sich um ein Gerücht handelt.«
»Ist das ein Kompliment?«, fragte der Inquisitor verunsichert.
Seine rechte Brusthälfte zierte eine weiße, halbrunde Narbe. Ywha wusste, dass er eine ebensolche, wenn auch kleinere Narbe auf dem Rücken trug. Sie wollte ihn schon fragen, woher er sie hatte, biss sich jedoch im letzten Augenblick auf die Zunge. Ein wenig Taktlosigkeit schadet nichts — aber sie durfte es nicht übertreiben.
Am Himmel flog ein Flugzeug, eine graue Nadel, die einen schleifenartigen weißen Faden hinter sich herzog. Die Gänseschar kreuzte lautlos den Himmel, der sich im Fluss spiegelte, und auch den weißen Kondensstreifen. Wenigstens hier gibt es Gerechtigkeit, dachte Ywha und schloss die Augen. Es gibt im Leben Momente, da sind sich Gänse und ein Flugzeug ebenbürtig.
»Ich wäre gern eine Gans«, flüsterte Ywha. »Mit roten Füßen.
Dann könnte ich den ganzen Sommer über schwimmen. Und Gras fressen. Danach könnte man mich getrost abschlachten. Welchen Sinn hätte es schon, auf den Winter zu warten?«
»Du wärst eine fuchsrote Gans«, amüsierte sich Klawdi. »Schließlich bist du als Füchsin zur Welt gekommen.«
Nach einem Manöver hielt die Gänseschar entschlossen auf den Steg zu.
»Die haben es auf mich abgesehen«, brachte Klawdi mit brechender Stimme hervor. »Seit meiner Kindheit haben Gänse was gegen mich. Ganz zu schweigen von jener goldigen Gans, die sich Seine Durchlaucht, der Herzog nennt, die ist immer vorneweg.«
»Die scheren sich doch gar nicht um Sie«, erklärte Ywha gelassen — eine optimistische Prognose, die leider keine Bestätigung fand.
Die Gänse landeten in geschlossener Formation am Ufer. Klawdi fuchtelte mit einem Weidenzweig, was der Gänserich, ein formidabler Kerl, der jedoch schon auf den ersten Blick dümmer als die anderen Tiere wirkte, als Aufforderung zum Kampf auffasste. Dem gekrächzten Befehl ihres Leittiers Folge leistend, stellten sich die Gänse Flügel an Flügel auf und beugten synchron die langen weißen Hälse zum Boden.
»Mach doch was, Ywha!«, verlangte Klawdi hilflos. »Jag sie weg!«
»Das geht nicht, ich bin nackt.«
»Ich kneif die Augen fest zu! Komm raus, wirf einen Stein, irgendwas, aber jag diese Mistviecher weg! Sie … Verflucht!«
Die Gänse schlossen einen Ring um Klawdi. Jede Schlange hätte sie um ihr Zischen beneidet. Der Großinquisitor hüpfte auf seinen nackten Füßen, fuchtelte ununterbrochen mit dem Zweig, hatte aber aus unerfindlichen Gründen Angst zuzuschlagen.
»Verdammt noch mal, Ywha! Das ist nicht komisch! Ich habe nicht mal Hosen an!«
Ywha versuchte, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. Doch die Lippen gehorchten ihr nicht, sie grinste bis über beide Ohren und wäre beinahe an ihrem eigenen Lachen erstickt. »Kommen Sie! Was sollten die denn schon von Ihnen wollen?!«