»Das ist nicht komisch! Ich habe Angst vor diesen Viechern!«
»Wir müssen ihren Hirten finden. Vielleicht sagt der ja ›Pfui! ‹ zu ihnen.«
»Hör endlich auf zu lachen! Komm raus und schmeiß irgendwas nach ihnen, vielleicht einen Schuh …«
»Mit so einem edlen Schuh auf dumme Vögel losgehen!«
»Ywha, ich flehe dich an! Von Mensch zu Mensch!«
»Aber ich bin nackt.«
»Das ist doch scheißegal! Hier, guck, ich halt mir die Augen zu!«
Ihr Lachen unterdrückend, stakste Ywha ans Ufer, schnappte sich einen Stock und fuchtelte mit der Gleichmütigkeit eines Mädchens vom Lande. »Ksss, ksss, ksss!«
Die Gänse, die die Eröffnung einer zweiten Front voller Empörung zur Kenntnis nahmen, schnatterten erbost. Eine Zeit lang war Ywha voll und ganz damit beschäftigt, die Tiere auseinanderzutreiben, doch als sie nach einer Weile nach oben sah, fing sie Klawdis Blick auf.
»Sie haben mir Ihr Wort gegeben!« Sie wich zurück und bedeckte sich mit den Händen.
»Aber ich muss doch wissen, ob eines von diesen Mistviechern vorhat, mich zu beißen.«
Sie ließ sich, fontänenartig Wasser aufspritzend, rückwärts in den Fluss fallen. Die versprengten Gänse stürzten sich prompt erneut in den Kampf. Mit einem kurzen Aufschrei floh Klawdi zu Ywha ins Wasser. Die Gänse blieben noch ein Weilchen zeternd am Ufer stehen, bevor sie der Stimme der Vernunft oder dem Ruf ihres Leittiers folgten, sich umdrehten und geschlossen abzogen.
Da Ywha eine schlechte Schwimmerin war, versuchte sie ständig, eine Position zu wahren, in der ihre Füße den Grund berührten. Klawdi machte erst gar keine Anstalten zu schwimmen, sondern stand lediglich bis zur Taille im Wasser und tupfte mit der Hand versonnen nach den hüpfenden Sonnenreflexen.
»Könnten mich die Hexen dann nicht wenigstens in eine Füchsin verwandeln — wenn das mit der Gans schon unmöglich ist?«, fragte Ywha mit Flüsterstimme. »So richtig, meine ich, für immer.«
»Ywha«, gab er zurück, nachdem er sich mit feuchten Händen übers Gesicht gestrichen hatte, »können Hexen die Zeit zurückdrehen? Uns … nein, du brauchst das nicht, du warst ja damals noch nicht mal geboren … mich, Klawdi Starsh, dreißig Jahre zurückversetzen? Na gut, achtundzwanzig?«
»War Ihr Leben denn damals schöner?«
Voller Ernst blickte er ihr in die Augen. So ernst, dass ihre Beine watteweich wurden.
»Damals gab es … Ja, Ywha. Ich weiß nicht, ob es damals besser war. Es gab damals einfach Leben.«
»Und jetzt nicht?«, fragte sie, obwohl sie ihre Worte gleich darauf bereute.
Er antwortete nicht. Er setzte sich so hin, dass er bis zum Scheitel im Wasser versank. Als er wieder auftauchte, strich er sich die in der Stirn klebenden Haare aus dem Gesicht. »Geh ans Ufer, Ywha. Dir wird sonst noch kalt.«
»Damit Sie mich wieder begaffen können?!«
»Dummerchen«, lachte Klawdi, während er aus dem Wasser stampfte. »Ist dir eigentlich klar, was ich in meinem Leben schon alles gesehen habe? Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als mir deinen Popo anzugucken.«
»Wenn es Sie sowieso nicht interessiert, dann schauen Sie halt nicht hin«, blaffte Ywha, nun plötzlich beleidigt.
Mit diesen Worten hielt sie aufs Ufer zu, geschäftig und entschlossen, so wie ein Redner die Bühne betritt. Sich am Steg hochhangelnd und ohne Klawdi eines Blickes zu würdigen, schnappte sie sich ihre Sachen. Stur geradeaus blickend, zog sie sich an, wobei sie sich bemühte, auf gar keinen Fall gehetzt zu wirken. Akkurat zog sie den neuen Reißverschluss in der alten Jeans hoch, zupfte ihr Hemd zurecht — und erst danach sah sie Starsh an.
Selbstverständlich hatte dieser nicht im Entferntesten daran gedacht, woanders hinzusehen. Die ganze Zeit über hatte er sie stillschweigend beobachtet! Was für eine Unverfrorenheit!
Da sie jedoch keine Kraft fand, um zu explodieren, lächelte sie bloß. Ein mitleidiges Lächeln. »Und? Das war doch nichts Besonderes, oder? Das haben Sie doch schon oft genug gesehen, oder? Und …« Demonstrativ linste sie auf seine Badehose. »… Eindruck hat es wohl auch keinen gemacht?«
Als er schwieg, bedauerte sie ihre Worte. Wie damals, in der Kunstschule, wo die frechen Mädchen sie für eine Heilige oder einen Feigling hielten und sie, um ihnen das Gegenteil zu beweisen, ein Pornoheft mit in den Unterricht geschleppt hatte. Als Herr Chost, ihr Geschichtslehrer, sie dann mit dem Ding erwischt hatte, war sie sich sicher gewesen, die Haut ihrer Wangen würde gleich platzen, so unbarmherzig schoss das Blut in sie hinein. Aus irgendeinem Grund hatten sich all ihre Versuche, kokett zu sein, stets gegen sie verkehrt. Ihr ganzes Leben lang.
Es roch nach Wasser und Weiden. Über viele Jahre hatte er diesen Geruch gemieden.
Über dem Wasser kreisten Libellen. Zu lange hatte er dieses warme, grünliche Wasser mit den glänzenden, inselgleichen Seerosen gehasst. Das Haus am Flussufer, das sein Vater früher einmal sorgsam in Schuss gehalten hatte, verrottete jetzt. Während Klawdi auf dem morschen Steg saß, konnte er sich nicht genug über die seltsamen Beweggründe wundern, die ihn veranlasst hatten, Ywha an diesen Ort zu bringen.
Hier gab es keinen Sand, keine Kinder, keine Alten, keine braun gebrannten jungen Männer mit ihren Freundinnen. Aber der Geruch war absolut der gleiche. Der ihm für immer in die Nase gestiegene Geruch von Wasser und Weiden. Wenn er sich seiner Phantasie überließ, sah er die junge Frau im schlangenfarbenen Badeanzug vor sich, die lachend mit beiden Händen auf die sonnengefleckte Wasseroberfläche einschlug. Eine lang zurückliegende Erinnerung, die kaum noch schmerzte, die inzwischen kaum mehr als ein schönes Bild war …
Nur mit Mühe öffnete er die Augen wieder.
Ywha fror, und das T-Shirt, das sie über den feuchten Körper gestreift hatte, klebte an ihrer Brust. Sie brauchte nur kurz, um sich über den ärgerlichen Umstand klar zu werden, dann drehte sie sich um und zerrte den nassen Saum herunter. Klawdi bekam unterdessen ihre wirren roten Haare zur Ansicht geboten.
Der Geruch. Der Geruch nach Weiden und Tannennadeln. Diese helle Welt, die mit ihren leuchtenden Farben an eine Halluzination erinnerte. Das Bergmassiv, dieses erstarrte, blau befellte Tier.
Wie sehr es ihn damals erstaunt hatte, dass die Berge unterschiedliche Farben hatten. Dass sie fließend die Farbe wechselten und die Schatten der Schäfchenwolken einfingen.
Eine weiße Herde war den Hang hinuntergetrottet wie ein Fluss aus Milch. Rücken an Rücken, lauter lockige Schafsrücken und dann das Gebimmel von Glöckchen, jedes Tier hatte eins …
Djunka.
Auf den waldbewachsenen Hängen hatten die Schatten der Wolken gelegen.
Ein Schafsfluss.
Djunkas Lippen.
Wortlos hatten die Berge seine, Klawdis, Wahrheit bestätigt.
Sie hatten ihren Kuss als Teil der großen Welt anerkannt, sie den Spechten und Flüssen, den weißen Rücken der Schafe, den weißen Bäuchen der Wolken, den Seen, diesen Silbermünzen in grünen Feldern, und auch den Holzbalken gleichgestellt, die in den Boden gerammt und mit der Zeit nachgedunkelt waren.
Klawdi presste die Finger zusammen, bis es schmerzte.
Er bedauerte, nicht ein einziges Foto von Djunka aufgehoben zu haben. Nicht ein einziges von den Hunderten, den kleinen und großen, matten und hochglänzenden, farbigen und schwarzweißen, lustigen, traurigen, unscharfen und aussagelosen und offiziellen — wie das vom Schülerausweis. Alle waren weg. Ausnahmslos. Zehn Jahre nach ihrem Tod hatte er versucht, wenigstens eins aufzutreiben. Vergeblich. Djunka war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Selbst das Relief auf dem Grabstein hatte im Laufe der Jahre jede Ähnlichkeit mit dem Original eingebüßt, war stumpf geworden und von weißen Kalkstreifen überzogen. Das Gesicht konnte jeder x-beliebigen jungen Frau gehören — nur nicht jener Djunka, an die sich Klawdi Starsh erinnerte.