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Eine Pause.

Das gefasste Gesicht, vom Feuer beleuchtet. Aus unerfindlichen Gründen war Ywha fest davon überzeugt, schon lange habe niemand mehr Klawdi Starsh diese Frage gestellt. Vielleicht sogar noch nie.

Oder doch? Hatten nicht unzählige Frauen, wenn sie sich, erschöpft von den Liebkosungen und Berührungen seiner Hände, in diesem Riesenbett rekelten, unversehens jenen Schatten gespürt? Den Schatten jener einzigen Frau aus grauer Vorzeit. Ob sie Verzweiflung und Eifersucht empfunden hatten? Ob vielleicht auch eine von ihnen gefragt hatte: Was ist mit ihr geschehen?

Obwohl Klawdi schwieg, wusste Ywha bereits, dass eine Antwort folgen würde.

Das Lagerfeuer formte in seinem Innern phantastische Paläste — um sie gleich darauf selbst zu zerstören, sie in eine Funkenwolke zu verwandeln, in Chaos und Asche.

»Sie ist gestorben, Ywha. Ertrunken.«

»Vor achtundzwanzig Jahren?«

»Sie kann … könnte deine Mutter sein. Aber so seid ihr Altersgenossinnen. Du bist sogar etwas älter.« Sein einer Mundwinkel zitterte kaum merklich.

»Und all die Jahre …«

»Das spielt keine Rolle.«

»Doch, das tut es. Ich glaube, Sie geben sich die Schuld an ihrem Tod. Aber sie ist doch nicht durch Ihre Schuld gestorben, oder?«

Auflodernd fiel ein weiteres Feuergebilde in sich zusammen.

Akkurat legte Klawdi weitere Zweige nach. Das Lagerfeuer sackte kurz in sich zusammen, züngelte dann aber erneut hoch. Der Lichtkreis wurde größer; in die seltsam wattige Stille quakte zart ein einzelner Frosch hinein.

»Wir haben vergessen, wie es ist … wenn alles still ist. In Wyshna gibt es diese Stille nicht, stimmt’s, Ywha?«

Sie seufzte mehrmals. Auf allen vieren krabbelte sie auf die andere Seite des Feuers, wobei sie die Decke hinter sich herzog.

Klawdi erhob keinen Einspruch.

Sie setzte sich neben ihn, so dicht, dass sie den Kopf auf seine Schultern legen konnte, falls sie es wollte. Sie konnte es, tat es aber nicht. Seufzend zog er sie an sich.

Eine Minute verging. Eine weitere. Der ewige Tanz der Flammen. Stille.

»Das Feuer … hat sich nicht verändert. Das stimmt doch, oder, Klawdi? Das muss man sich mal vor Augen halten: Jahrhunderte, Jahrtausende, alles verändert sich, nur das Feuer nicht. Schon die Alten haben da hineingeschaut, vor tausend Jahren, mit ernstem Blick, genau wie wir jetzt. Da wird einem ganz schön schwindlig, oder?«

»Ja.«

»Klawdi … ist es Ihnen schon mal passiert, dass Sie etwas sagen wollten und nicht konnten? Weil es die Worte … dafür einfach nicht gibt. Und für manche Dinge existieren tatsächlich keine Worte, oder?«

»Stimmt.«

»Ich will nicht schlafen. Ich möchte bis zum Morgengrauen … hier sitzen. Weil …«

»Ja, Ywha, ja, wir bleiben hier sitzen. Vor allem … da uns ohnehin nicht mehr viel Zeit bis dahin bleibt.«

Sie bettete den Kopf bequemer — und schloss selig die Augen.

Um sieben Uhr morgens stand der Dienstwagen bereits vor dem morschen Tor. Er hupte nicht, lenkte die Aufmerksamkeit nicht auf sich, sondern wartete schweigend. Ywha sank der Mut.

»Wir haben noch zwanzig Minuten«, erklärte Klawdi unerschütterlich. »Wir können noch unseren Tee trinken.«

Die Maus huschte geschäftig in eine Ecke. Wie gestern.

Klawdis Hände lagen an der Tischkante, links und rechts von der Tasse. Bleiche Hände, mit einer noch nicht verheilten Schnittwunde und hervortretendem Adergeäst.

Er schwieg — so lange, bis das Auto, das vorm Eingang stand, taktvoll hupte.

»Klawdi …«

»Ja?«

»Es ist immer so«, flüsterte Ywha. »Wenn man jemanden verliert, glaubt man immer, man selbst sei schuld daran. Bei uns im Dorf, in Tyschka, wo ich geboren bin, da gab es auf dem Friedhof einen richtig guten Lum …«

Sie verstummte. Das Auto hupte noch einmal.

»Ein komisches Gespräch«, bemerkte Klawdi mit blassem Lächeln. »Als ob wir in der offenen Tür stünden und gehen sollten, schließlich hatten wir doch genug Zeit. Jetzt hingegen ist unsere Zeit abgelaufen. Die Tür steht ja schon offen. Doch wir zögern den Abschied hinaus, denn etwas Wichtiges ist ungesagt geblieben. Nur dass eben die Tür schon offen steht und man darauf wartet, dass wir …«

Er erhob sich. Er kippte den nicht getrunkenen Tee zum Fenster hinaus und nahm sein elegantes, faltenloses Jackett vom Haken. »Gehen wir.«

»Es war ein guter Lum«, flüsterte Ywha. »Und er hat sich seinen Trost kaum etwas kosten lassen. Jedenfalls hat er gesagt, unsere Schuld existiere nur in unserer Einbildung und wir sollten uns nicht mit ihr belasten.«

»Gehen wir, Ywha.«

Die Gänse lauerten vor der Tür auf den Großinquisitor. Mit einem Stock fuchtelnd ging Ywha voran. Die weißen Vögel schlugen mit den Flügeln und brachten das Gras zum Zittern — wie Hubschrauberrotoren. Klawdi stapfte an ihnen vorbei, gar nicht mehr daran denkend, dass er sich eigentlich vor ihnen fürchtete. In gewisser Weise war Ywha sogar enttäuscht. Vom Wagen trennten sie noch zwanzig Schritte … achtzehn, siebzehn …

»Ich habe das noch nie erlebt«, flüsterte Ywha. »Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der sich an Ereignisse erinnert, die dreißig Jahre zurückliegen … sich in dieser Weise erinnert. Ich habe die Märchen über die ewige Liebe nie geglaubt.«

»Du bist sentimental, Ywha.«

»Nein.«

»Doch. Das ist kein Märchen. Und es ist nicht lustig. Und vermutlich handelt es sich auch nicht um Liebe.«

»Sie können ruhig lachen, aber ich …«

Sie verstummte.

Eine sperrangelweit offen stehende, vernickelte Tür.

»Nieder mit dem Abschaum, Patron.«

Der Geruch von Wasser und Gras wich dem des aufgeheizten Autos. Der Fahrer drehte sich beflissen um. Klawdis Hand griff nach dem Telefon, überlegte es sich unterwegs jedoch anders. Vielleicht wollte der Großinquisitor die Rückkehr zu seinen Pflichten ja noch um ein paar Minuten hinauszögern. Nahezu beiläufig legte sich seine Hand auf die seiner Gefährtin. »Was wolltest du sagen, Ywha? Warum könnte ich über dich lachen?«

Sie schwieg und biss die Zähne zusammen. Ihre Hand wurde immer feuchter. Und heißer und geradezu nass. Hauptsache, Klawdi bemerkte das nicht.

Jetzt würde sie nichts mehr sagen.

Sie würde nicht zugeben, was sein Vertrauen ihr bedeutete. Dass alle Geheimnisse der Inquisition nichts waren im Vergleich zu dem seltsamen Geheimnis seines Lebens. Und wie sehr sie dieses Geheimnis respektierte.

10

Der junge Mann kam nicht aus Wyshna. Von dem Wohnheim aus, in dem er seit drei Tagen das harte Bett für Abiturienten bezogen hatte, bis zur Universität, wo ihm eine strenge Kommission die obligatorische Aufnahmeprüfung abnahm, brauchte er bei gemächlichem Tempo zwanzig Minuten zu Fuß. Da er in seiner Tasche jedoch eine Münze ertastete, ging er die Treppe zur Metro hinunter. Weder hatte er Geld zum Verprassen, noch musste er sich sonderlich beeilen — er konnte sich dieses Vergnügen einfach nicht verkneifen. Das unterirdische Königreich hatte in seinen Dorfalltag noch keinen Einzug gehalten, weshalb es ihn lockte und verführte: eine Attraktion darstellte.

Während er die breite, feuchte Treppe nahm, wusste er noch nicht, dass er durch die Prüfungen fallen würde. Und, was noch unglaublicher schien, dass er nie wieder in seinem Leben den Mut finden würde, eine Metro zu besteigen. Dass er in eine entlegene Kleinstadt ziehen würde, in der es selbst in Jahrzehnten niemandem in den Sinn käme, unter der Erde Schienen zu verlegen. Dort würde er geruhsam als Buchhalter arbeiten und schließlich glücklich und zufrieden leben — sah man einmal von jenen Nächten ab, in denen ihn Albträume heimsuchten und er im fernen Gebrumm der Eisenbahn das Rattern unterirdischer Räder zu erkennen glaubte.