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Als Einheiten der Zivilverteidigung in die Tunnel eindrangen, als die Feuer gelöscht und die Züge mit den zertrümmerten Scheinwerfern zu den Stationen abgeschleppt werden konnten und als die Tragen mit den Verletzten nach oben gebracht wurden, da strömte mit der Menge, die sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte, auch ein Abiturient, ein Liebhaber der Metro, hinaus ins Freie, wo sich ein blauer Himmel über den heutigen, diesen verfluchten Tag spannte. Er stolperte durch die Straßen, ohne zu bemerken, dass seine Hosen nass waren. Seine Aussage, auf Video aufgezeichnet, bekam der Großinquisitor vierzig Minuten später zu sehen. Zusammen mit unzähligen anderen, die sich alle als gleichermaßen wirr und hilflos herausstellten.

Morgen würde der junge Mann wieder nach Hause fahren.

Binnen einer Woche würde er kahl wie eine Billardkugel sein. Aufgrund von Stress.

Doch wenn man darüber nachdachte: Wozu brauchte ein Buchhalter eigentlich Haare?

Schon seit dem frühen Morgen fühlte sich der alte Mann schlecht. Der Feiertag geriet in Gefahr. Immerhin war sein fünfjähriger Enkel, der bereits lautstarken Protest einlegen wollte, nach einem ernsten Gespräch mit seiner Mutter jetzt ruhig. Für den Jungen, dessen Kopf gerade mal über den Tisch ragte, bot sich damit zum ersten Mal in seinem Leben die Gelegenheit, zwei Umstände — »Ich will die Ballons sehen« und »Großvater ist krank« — bewusst gegeneinander abzuwägen, eine Wahl zu treffen, sich in sein Schicksal zu fügen und das Geplärr einzustellen. Das rührte den Alten, der sich daraufhin überwand, sich eine Tablette, die schon von Weitem nach Medikament roch, unter die Zunge schob und anschließend mit seinem Enkel einem nie zuvor erlebten Spektakel beiwohnte: dem traditionellen Ballonrennen.

Noch am Vorabend hatten sie darüber spekuliert, ob das Rennen aufgrund der jüngsten Ereignisse in Wyshna abgesagt werden würde. Der Alte war sich ganz sicher gewesen, dass das nicht passieren würde. Zu viel Geld war in diesen Festtag geflossen, zu viel Geld stand hinter jedem einzelnen Werbeplakat, zu viele hoch geschätzte Länder hatten ihre Vertreter entsandt, zu gewichtig war die Tradition, als dass man einen solchen Tag einfach absetzte.

Die Eintrittskarten hatten sie schon im Voraus besorgt, keine sehr teuren, aber durchaus passable. Von ihren Holztribünen aus hatten sie eine gute Sicht auf den Großteil des Feldes — was erst recht für den Enkel galt, der bei seinem Großvater auf den Knien stand. Waren die Ballons erst einmal in den Himmel aufgestiegen, konnte ohnehin jeder das Schauspiel verfolgen, auch diejenigen, die keine Karte gekauft hatten, sich hinterm Zaun drängten, also hinter — ein Tribut an die Sicherheit — der Kette aus Polizisten mit ihren Schilden und Knüppeln. Der Junge auf den großväterlichen Knien reckte den Hals und konnte sich nicht entscheiden, wohin er zuerst schauen sollte. Zur Parade der Mannschaften, die dem Vertreter der Gesellschaft der Luftschiffer Bericht erstatteten, oder zu den Onkeln in den schönen Uniformen, mit Helmen, Pfeifen, Funkgeräten und Pistolen.

Der Alte seufzte tief. Hier an der frischen Luft, wo ein leichter Wind ging, fühlte er sich wesentlich besser. Sein Herz machte ihm kaum noch zu schaffen. Gut hatte er daran getan, der Krankheit nicht nachzugeben. Und wie sich der Junge freute!

Das Startsignal wurde gegeben.

Die Leinen, die bislang die bunten, vielgestaltigen Gebilde am Boden gehalten hatten, rissen mit unverhohlener Erleichterung. Auf den Tribünen wurden die persönlichen Favoriten mit lautem Gejohle begrüßt; die eigene stürmische Begeisterung stieg damit ebenfalls in den wolkenlosen blauen Himmel dieses Tages auf. Der exotische Anblick löste Begeisterung aus, die Orchestermusik und das schöne Wetter mündeten in eine allgemeine, überschäumende Heiterkeit. Der Junge hüpfte juchzend auf den Knien seines Großvaters und blickte den bunten Ballons verzaubert nach, die höher und höher aufstiegen. Der Alte selbst, der mehrere Tage lang eine tiefe Depression durchlitten hatte, fühlte sich frischer als der Wind.

»Erster! Der Habicht ist Erster! Er ist höher als alle anderen, schau doch mal, Großvater!«

»Liebe Zuschauer, es beginnt die erste Etappe des Rennens. Mit stockendem Herzen sehen wir, wie …«

»Und da, Großvater, der hat einen roten Schwanz! Und da ist ein Hubschrauber, guck doch, Opa, ein Hubschrauber! Und da …«

Der Himmel verwandelte sich in ein Blütenmeer.

Die Ballons stiegen immer höher, ab und zu fiel ein Schatten auf die Tribüne, dann sahen der Großvater und sein Enkel die Sonne, die durch die dünnen, kunterbunt eingefärbten Stoffe fiel. Die aufwendigen Reklamebänder schlingerten und drehten sich, die Menge hielt angesichts der Erfindungsgabe der Konstrukteure den Atem an. Die Ballons glitten weiter, verschmolzen mal mit dem Himmelsblau, hoben sich dann wieder grell leuchtend gegen den Hintergrund ab, veränderten die meisten ihre Farbe doch in Abhängigkeit von der Temperatur, vom Wind und von weiß Gott was sonst noch für Faktoren. Das Orchester schmetterte, jemand ließ eine Rakete steigen — und wurde prompt wegen dieses Gesetzesverstoßes abgeführt. Der Kommentator schrie etwas, worauf der Alte, vom Anblick der Ballons gefesselt, jedoch nicht achtete. Das tut gut, dachte er. Endlich mal was anderes. Und wie begeistert erst der Kleine sein muss!

In diesem Augenblick schrumpelte der größte und höchste Ballon, der Habicht, der offenbar von einer riesigen Schuhfirma ins Rennen geschickt worden war, so zusammen, dass er an eine faule Birne erinnerte, und verlor jäh an Höhe.

Verängstigt schrien die Zuschauer auf. Der Ballon kam so tief, dass sich einige Schaulustige vor dem bemalten Korb in Sicherheit bringen mussten. Glücklicherweise geschah das weit hinter der Absperrung, dort, wo es keine Tribünen gab und sich nur wenig Menschen befanden. Kurz bevor der Ballon die Erde berührte, blies er sich jedoch wieder auf, und die Zuschauer johlten schon vor Begeisterung, zeigten seine Konturen doch jetzt ein Clownsgesicht mit einer runden Nase, abstehenden Ohren und einem lachenden, offenen Mund.

»Das ist mal was!«, rief der Alte fröhlich. »Früher gab’s so was nicht! Schau doch nur, da!«

Der Kommentator, der eigentlich wie ein Wasserfall hätte sprudeln müssen, geriet ins Stocken, dafür schmetterte das Orchester umso energischer los. Der Habicht, dessen Form seiner Bezeichnung überhaupt nicht mehr entsprach, stieg immer höher, blähte sich weiter, schwoll in kürzester Zeit auf die doppelte Größe an. Die Menschen auf der Tribüne sperrten die Münder auf, denn der Habicht schien den halben Himmel einzunehmen; die anderen Ballons wirkten neben ihm so winzig wie Perlen.

»Schau doch nur!«, wiederholte der Alte. »So was habe ich noch nie …«

Erstaunt verstummten sämtliche Tribünen.

Zu seltsam führten sich die Ballons auf. Einer sank in einer wirbelnden Spirale. Ein anderer erzitterte, bis sein Korb schaukelte; die Besatzung klammerte sich krampfhaft an den schwankenden Wänden fest. Ein dritter zog sich zusammen und wurde ganz flach, ein vierter nahm eine Zapfenform an, ein fünfter drehte sich wie ein Kreisel, schneller und schneller, ungewöhnlich schnell, und die Reklamebänder flogen abgespreizt um ihn herum wie die Sitze eines Kettenkarussells.

Der Habicht wuchs weiter. Der Kommentator schwieg. Der Alte riss den Blick vom Himmel.

Auf dem grünen Feld stand der Vertreter der Gesellschaft der Luftschiffer, sein Gesicht war tellerweiß, in Panik verzerrt.

Nervös zuckte der Alte zusammen. Er wandte sich seinem Enkel zu, weshalb ihm auch alles weitere entging.