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»Da ist ein Herr, der seit gestern versucht, Sie telefonisch zu erreichen, Patron. In einer Privatangelegenheit. Soll ich durchstellen?«

»Wie heißt er?«

»Julian Mytez.«

»Das hättest du mir gleich sagen sollen. Stell durch.«

Es knisterte in der Leitung.

»Juljok, was ist los?«

»Klawdi! Zum Teufel, Klaw, ich hab schon fast nicht mehr damit gerechnet, dich noch zu erwischen.«

»Wir leben in schwierigen Zeiten, Juljok. Ich habe nur wenig Zeit. Was gibt’s denn?«

»Klaw, ich … Kannst du mir sagen, was hier vor sich geht? Offenbar haben alle den Verstand verloren, niemand glaubt noch, was in den Nachrichten gebracht wird, die Hexen … Klaw, wenn du nicht offen darüber reden darfst, dann könntest du mir vielleicht etwas andeuten … Sollen wir die Stadt verlassen? Ins Ausland gehen? Aber es heißt, im Ausland sehe es genauso aus!«

Klawdi schloss die Augen. Gegen das Fenster pladderte der herbstlich kalte Regen. Anscheinend mengte sich sogar Schnee in ihn.

»Nein, ihr müsst nicht fliehen. Bleib ruhig, wo du bist. Komm nicht nach Wyshna. Meide Orte mit vielen Menschen und lass auch Nasar nicht aus dem Haus. Das wird vorbeigehen, keine Sorge.«

»Meinst du das ernst, Klaw? Glaubst du daran?«

»Tut mir leid, Juljok, aber ich habe wirklich keine Zeit. Wir sehen uns bestimmt bald, stell schon mal einen Wein bereit. Bis dann.«

»Ja, Klawdi … Ja, entschuldige … Bis dann.«

Der Hörer lag auf der Gabel.

Auf Klawdis Seele lag ein Stein.

Warum hatte sich Julian nicht nach Ywha erkundigt?

Aber was hätte er denn für eine Antwort erhalten? Ich habe mich ihrer persönlich angenommen — genauso wie es bei allen anderen Wyshnaer Hexen geschah …

Alles ging mit einem Überfall auf eine Einheit los, die eine Ladung nicht initiierter Hexen aus der Stadt schaffte. Bei den Angreifern handelte es sich ausnahmslos um Mitglieder des Hockeyclubs Wyshna, zehn kräftige Kerle, mit Hockeyschlägern und ein paar Damenpistolen bewaffnet, die Kleinholz aus dem Laster machten und innerhalb von achteinhalb Minuten die Hexen befreiten, die danach ihrerseits wie vom Erdboden verschluckt schienen. Die überlebenden Soldaten schworen später, sie hätten ein Gelächter »wie in der Metro« gehört; außerdem hätten die stämmigen, kahl rasierten Sportler die Schatten von schlanken Frauen mit langen Haaren geworfen. Klawdi verzog schmerzlich das Gesicht, fuhr lange mit der Hand über eine riesige Karte der Vororte, hörte sich die Vorträge der Bezirksinquisitoren an und schickte immer wieder eine Einsatzgruppe an einen entlegenen, ganz und gar unauffälligen Ort der Stadt, in dem plötzlich Panik ausgebrochen war.

Zwei- oder dreimal fanden die Einsatzkommandos an besagten Orten ein verlassenes, noch warmes Nest. Sie hoben einen Initiationssaal aus, auf dem trocken gelegten Boden eines Schulschwimmbeckens. Dreimal konnten sie einen erfolgreichen Zugriff verzeichnen, und zwei erfahrene sowie vier frischgebackene Hexen fielen den Einsatzkommandos zum Opfer.

Von den alten Hexen — von denjenigen, an die Klawdi gewöhnt war, seien sie nun hinterlistig oder geradeheraus, feige oder mutig, von den Hexen der Friedenszeiten — unterschieden sich die festgenommenen »Herrinnen« dadurch, dass sich diese dem eigenen Schicksal gegenüber absolut desinteressiert zeigten. Ihr Selbsterhaltungsinstinkt war ihnen abhanden gekommen. Weder Versprechungen noch die Folter beeindruckten sie, die Frage, wann ihr Urteil vollstreckt würde, kümmerte sie nicht im Geringsten; selbst die neu bekehrten Hexen, die die Initiation erst vor ein paar Tagen durchlaufen hatten, hatten sich in ihrer Seele nichts Menschliches mehr bewahrt. Bei den Worten »ungeborene Mutter« funkelten in ihren Augen für kurze Zeit verräterische gelbe Feuer auf. Das war die einzige Reaktion, die bewies, dass die Gefangenen nicht gehörlos waren.

Klawdi versuchte nicht, mit Ywhas Hilfe hinter ihre Motive zu blicken. Sich selbst redete er ein, die Periskop-Methode habe die in sie gesetzten Hoffnungen nicht gerechtfertigt. Letztlich dürfte jedoch auch die Antipathie eine gewisse Rolle gespielt haben, die er diesen gemeinen Seelen gegenüber hegte; vermutlich wollte er nicht, dass Ywha in diese eindrang. Wer wusste denn, wie sich dergleichen auf die junge Frau auswirken konnte?

Das nächste entscheidende Ereignis war, dass zwei junge, vielversprechende Inquisitoren durch ein spitzfindiges Manöver die »Straßenbahnerin« für Klawdi fingen, jene ehemalige Stripperin aus dem Nachtclub Trolle, hinter der der Inquisitor selbst in dem Auto mit der zersplitterten Windschutzscheibe hergejagt war und die er aus gutem Grund verdächtigt hatte, die …

Auf diesen Gedanken hatte ihn erst der silbrige Schal gebracht, den sie gewiegt hatte. Die Mutter, eine Wiege … Die Mutterhexe! Die ungeborene Mutter. Oder war sie inzwischen bereits geboren?

Mit einem schiefen Lächeln begrüßte sie ihren Feind, den sie schon einmal ausgetrickst hatte. Sie war eine Schildhexe von nie da gewesener Stärke. Mit einem fünfundachtziger Brunnen. Mit einer eisernen Abwehr und der professionellen, artistischen Schamlosigkeit einer Nachtclubtänzerin.

»Deine Mutter hat sich von dir losgesagt, Any.«

Nein, damit brachte er sie nicht aus dem Konzept. Keine Sekunde. Als Antwort schenkte sie ihm nur ein weiteres Lächeln, dieses Mal ein verächtliches.

»Warum hätte sie sonst zugelassen, dass du mir in die Hände fällst? Du wirst noch heute sterben, Any. Dein Scheiterhaufen ist bereits aufgeschichtet.«

Weder Angst noch Verzagtheit.

»Wo ist deine Mutter, Any? Wo ist denn deine großartige Mutter? Zeig mir den Weg zu ihr. Sie wird doch nichts dagegen haben.«

»Willst du das so sehr?«

In der Stimme der Hexe schwang ein Oberton mit, der die Wächter in ihren dunklen Ecken lautlos verkrampfen ließ. Die Stimme drang ihnen durch die Haut, schwächte sie, schüttelte sie und spottete über sie.

»Du wirst sterben, Großinquisitor.«

»Wir alle werden sterben.«

»Alle werden sterben, aber du zuerst. Im Feuer. Unsere noch ungeborene Mutter wartet auf dich. Sie wird warten …«

»Wartet sie oder sammelt sie noch ihre Töchter?«

»Das verstehst du doch nicht. Denn du gibst dich mit dem zufrieden, was du mit eigenen Augen siehst. Du tust mir leid.«

Zur Bestätigung ihrer letzten Worte lächelte sie tatsächlich mitleidig. Schweigend. Und sie würde — das stand für Klawdi unwiderruflich fest — bis zu ihrem Tod kein Wort mehr hervorbringen.

Fünf Minuten nachdem Klawdi den Bericht über den Tod der Stripperin auf den Tisch bekam, geschah noch etwas Seltsames.

Sein Referent stürmte mit unangemessener Hast ins Büro. Allein aufgrund des fiebrigen Glanzes in seinen Augen wusste Klawdi, dass es um etwas Außergewöhnliches gehen musste.

»Patron … da ist … zu Ihnen … Seine Durchlaucht, der Herzog …«

Angeekelt linste Klawdi zu dem überquellenden Ascher, ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, in dem Rauchschwaden hingen, als spännen sich graublaue Stoffbahnen quer hindurch. Kein Herzog von Wyshna hatte je diesen Raum betreten, kein Großinquisitor war bisher zu dieser Ehre gekommen — falls man das denn für eine Ehre hielt.