»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
»Was hätte sie von meinen Briefen? Sie alle haben mich vergessen und verlassen, mit denen bin ich fertig!«
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
»Sobald ich das hier hinter mir habe, schreibe ich, ich schreibe ihr, dass ich komme …«
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
Ywha kniete sich hin, um über die straffen Schlingen des Schlangenkörpers zu krabbeln, und bohrte sich mit zusammengekniffenen Augen durch die engsten Ringe. Eine glänzende, glitschige, glatte Schuppe leistete ihr dabei Hilfe.
Ich komme durch, ich … muss mir mein Gedächtnis bewahren. Bis jetzt erinnere ich mich noch an alles. Wer ich bin, wo ich gelebt, wen ich geliebt habe. Ich muss mir mein Gedächtnis bewahren …
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
In ihrer Demütigung stöhnte Ywha auf. Mit jedem Schritt fühlte sie sich niederträchtiger, tiefer gesunken, ein Wesen, das niemand mehr brauchte. Ein Stück Dreck.
Ich werde Sie nie Wiedersehen, Klawdi.
»Warum hast du deiner Mutter nicht …«
…nie Wiedersehen, Klawdi. Niemals. Behalten Sie mich bitte nicht in Erinnerung, vergessen Sie mich!
»Warum hast du …«
Schließlich gaben ihre Knie nach. Sie fiel hin, krallte sich an dem Schlangenkörper fest, in ohnmächtiger Erwartung. Einer Angst einflößenden Erwartung — wobei sie nicht wusste, worauf.
Plötzlich hob sich der flache Kopf der Schlange schaukelnd in die Luft. »Jetzt werde ich dich beißen«, triumphierte die Schlange.
»Bitte nicht.«
»Jetzt werde ich dich beißen. Es kommt die Zeit zu sterben — also stirb ohne Furcht.«
Ywha schrie auf. Zumindest glaubte sie das. Dabei brachte sie keinen Ton zustande. Der Schlangenkopf näherte sich, öffnete das Maul und entblößte zwei apart gebogene Zähne.
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
»Bitte, beiß mich nicht.«
»Es geht nicht anders, glaube mir.«
Die Kiefer schlossen sich.
Genau in diesem Augenblick schoss auf das Mädchen, das über die Bahnschwellen ging, lautlos aus dem Nebel eine schwarze Dampflok zu.
Genau in dieser Sekunde riss das graue Haar unter den Füßen der Alten.
Genau in dieser Minute brach das Eis unter den Füßen der müden Frau, bleckte der Eisschlund seine Zähne.
Genau da spürte Ywha die todbringenden Nadeln, die in ihren Körper eindrangen. Doch sie vermochte nicht zu schreien, sondern starb schweigend.
Ihr Tod lag als schwarze Ebene mit dunkelroten Bergen am Horizont vor ihr. Über den Gipfeln brannte der Himmel, ebenfalls rot, wie glühende Kohle.
Danach kam Dunkelheit.
Dann war sie eine glückliche Sekunde lang ein Spatz im Tauwetter, ein grauer Vogel, auf dessen Flügel zwei Mal ein schwerer warmer Tropfen schmelzenden Frühlingswassers fiel.
»Und wenn die Zeit kommt zu leben, so lebt.«
Und Ywha lebte.
Schließlich erinnere ich mich doch noch an alles, oder?
Die Sohlen ihrer Turnschuhe glitten lustvoll über den straffen Schlangenkörper.
Schließlich ist das doch noch immer mein altes Ich, oder? Ich erinnere mich doch an alles?!
In diesem Augenblick sah sie das Ende des Weges.
»Das Pack herrscht nicht ewig. Nehmt die Kerzen, vollenden wir das Ritual, wie es uns unsere ungeborene Mutter befiehlt.«
Und Ywha drängte es aus ganzer Seele danach.
Genauso wie die Alte, das Mädchen und die Frau in der Lederjacke. Das Mädchen vollendete das Ritual als Erste, ihr folgte die Frau und kurz darauf die Alte. Ywha hatte es eilig, sie drängte, es fehlten nur noch ein paar Schritte …
Ich bin ich geblieben. Dabei ist das Ritual fast vollzogen. Ich hätte nicht solche Angst zu haben brauchen, denn ich bin ja ich geblieben.
Schmerz schoss in sie hinein, ein Schlag warf sie fast um, der Schlangenkörper zuckte wie in einem in Zeitlupe ablaufenden Krampf.
»Stehen geblieben! Hier ist die Inquisition!«
»Vorwärts, Schwester! Vorwärts, beende das …«
»Halt!«
Die roten Berge stürzten ein.
Ywha stürmte vorwärts — und verlor das Bewusstsein.
Am Morgen rief er die Dienst habenden Inquisitoren zusammen.
In der Nacht waren insgesamt zweiunddreißig Hexen verhört worden, davon neun unter der Folter. Fünf Kollegen Klawdis hatten von früh morgens bis spät nachts in den unterirdischen Verhörräumen gehockt. Sie mieden seinen Blick. Nach wie vor verfügten sie nur über beschämend wenig Informationen. Keine der vernommenen Hexen hatte auch nur angedeutet, wo sich die Mutterhexe aufhalten könnte. Klawdi tigerte durchs Zimmer, unter seinen Füßen raschelten wie Herbstlaut detaillierte Karten von Dörfern und Ortschaften, Gebieten und Kreisen.
»Noch ein paar Tage — und wir haben verloren.«
Seine Kollegen schwiegen.
Sie hatten ihre Familien schon seit Langem aus Wyshna herausgebracht, noch in Erste-Klasse-Waggons, weit weg, in die Berge, an menschenleere Orte. Ihre Ehefrauen genossen jetzt Hotelkomfort, machten sich Sorgen um sie und hörten die Nachrichten aus Wyshna im Radio. Doch heute Morgen gab es keine Nachrichten. Aus den Lautsprechern drang nur ein monotones, unerschütterliches Knistern.
Die Fenster waren fest verschlossen. Die Klimaanlage brachte auch keine Linderung. Im gesamten Palast der Inquisition, selbst in den Kellern, stand dicker Rauch. Die Hälfte der Städte brannte langsam ab.
Das Telefon funktionierte nicht mehr. Die Verbindung zu den Provinzen musste über Funk gehalten werden, bei der Übertragung gab es jedoch immer mehr Schwierigkeiten.
Die Gehsteige und das Kopfsteinpflaster der herrlichen Stadt Wyshna ertranken in Müll und Exkrementen. Der Inhalt der Kanalisation drückte die gusseisernen Gullideckel hoch und verwandelte die Straßen in stinkende Flüsse.
Mit einem Schlag fielen sämtliche Blätter von den Bäumen.
Der Herzog hatte die Stadt gestern verlassen. Der Hubschrauber, der bereits seit zwei Wochen auf dem Dach seiner Residenz gestanden hatte, hatte sich nun in die Luft erhoben und war davongeflogen.
Chaos und Panik herrschten und hinterließen eine leere Welt. Eine Welt, in der die Hexen erstarkten.
Die versteckte Kamera, die in den Ruinen des Opernhauses installiert worden war, fing kurz eine graue weibliche Figur ein.
Die ein Gespenst von Helena Torka zu sein schien.
»Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«
»Wenn wir in den nächsten Tagen keinen Durchbruch erzielen …« Er knirschte mit den Zähnen.
Diese Worte konnte er sich im Grunde sparen, das wusste er.
Noch vor Kurzem — oder war es unglaublich lange her? –, also vor anderthalb Monaten hatte er die Hexen gefoltert, die in Odnyza geschnappt worden waren. Er hatte sie gefoltert und damit etwas über das Schicksal in Erfahrung gebracht, das den Menschen im Stadion drohte. Er hatte sich die Hände bis hoch zu den Ellbogen schmutzig gemacht, obwohl er wusste, dass er diesen Dreck niemals wieder würde abwaschen können. Mit Blut und Scheiße hatte er sich besudelt — aber würde er die Katastrophe abwenden können?!
Wenn er doch nur eine Lösung wüsste. Ohne zu zögern würde er kopfüber in Scheiße springen, bis über beide Ohren in sie eintauchen, wenn er dem Ganzen nur Einhalt gebieten könnte.