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Sehe ich Soldaten auf der Strasse, so bin ich auch schon bereit, aus Zärtlichkeit über ihre grauen Mäntel zu weinen, ich lächle ihnen zu, mache ein törichtes Gesicht, benehme mich überhaupt wie der Dümmste der Dummen. Besonders erschüttert mich das Wort: «Russland», rein als hörte ich es zum ersten Mal, und hätte früher gelebt ohne zu ahnen, dass ich in Russland lebe und ein Russe bin. Seltsam, und trotz der Tränen ist es ein Gefühl freudigster Erregung.

Aus irgend einem unbekannten Grunde steht ein Roggenfeld vor meinem Blick: ich schliesse die Augen und sehe ganz deutlich, wie im Kinematograph, die Aehren im Winde wogen und wogen . . . irgendwo singt eine Lerche. Ich liebe dieses Vögelchen, weil es nicht auf dem Felde, nicht in den Dörfern singt, die anderen müssen bequem auf einem Zweiglein sitzen, sich vorbereiten, dann erst singen sie zusammen mit ihren Genossen, sie aber steigt allein in den Himmel, fliegt und singt. Aber ich fange ja an poehsch zu werden, plötzlich, ohne jeden Anlass, spreche ich von der Lerche) Es ist ja ganz gleich, ich möchte nur reden.

Noch etwas Sonderbares ist zu vermerken: seit Pawluschas Todesnachricht sprach ich heute mit Sascha zum ersten Mal viel von ihm, als müsse auch ihn diese Siegesbotschaft

berühren und er, unsichtbar zu uns zurückkehrend seinen gewohnten Platz an unserem Herde wieder einnehmen. Natürlich weinte Saschenka ein wenig, aber es waren schon nicht mehr die verzweifelten, heissen Tränen, das schreckliche Schluchzen, das früher nachts ihr Lager erbeben machte. Wir beschlossen, morgen zusammen in die Kirche zu gehen und eine Seelenmesse anzuhören. Ich liebe sonst diese Zeremonien nicht, diesmal aber erscheint es mir richhg und sogar angenehm.

Schliesslich noch ein weiterer erfreulicher Umstand, ich teilte Saschenka in den mildesten Ausdrücken meine Unzufriedenheit über ihren steten Aufenthalt im Lazarett, ihre Vernachlässigen der Familie mit; zu meinen Erstaunen wurde Saschenka nicht nur nicht böse und brauste nicht auf, wie man es bei ihrem Charakter hätte erwarten können, sondern versprach von nun ab den Kindern mehr Zeit zu widmen, klagte sogar über Müdigkeit. Sie ist wirklich müde, jetzt erst merke ich, wie blass und mager sie ist. Viele, schwere Sorgen erfüllen mein Herz. Sie ist aber dadurch nur noch schöner geworden, meine Saschenka, und heute begriff ich, dass dies so für ihren Dienst nötig sei: wenn ein Krieger stirbt, nimmt er in der Gestalt der über ihn geneigten, schönen Schwester von aller Schönheit Abschied, von aller Liebe, trägt dies letzte

Bild mit sich, als unsterblichen Traum. Und wer weiss, wie vielen Kriegern, die schon den Tod herannahen fühlten, ein Blick dieser schönen, verweinten Augen Absolution und Verzeihung verhiess.

Heute zum ersten Mal bedaure ich nicht, dass Saschenka bei ihren Verwundeten ist und ich allein bin. Ich bin von einem einzigen Gedanken erfüllt, denke nur an den Sieg .... Welches Glück! Es ist kaum zu zählen, wie oft ich dies Wort in Romanen, Geschichtsbüchern und in der letzten Zeit in den Zeitungen gelesen habe, und jetzt, zum ersten Mal erhalte ich urplötzlich ein Bild von diesem Fabelwesen, dem die Menschen seit der Erschaffung der Welt nachjagen. O, dieser Sieg] Alle haben ihn gewollt, alle wollen ihn, und nun ist er unserl Wieder möchte ich auf die Strasse laufen und durch die ganze Stadt trompeten:

«Steht und hört, Sieg, Sieg!»

11. (24.) März. Lidotschka ist erkrankt. Was soll das werden, mein Gott.

14. (27.) März. Sie ist gestorben.

10. (23.) Juni. Drei Monate lang habe ich mein Tagebuch nicht angerührt, hatte schon ganz seine

Existenz vergessen. Heute fiel es mir wieder ein, und nun sitze ich bereits eine halbe Stunde davor, ohne zu schreiben und starre auf die Zeile, auf der nur drei Worte stehen: sie ist gestorben. Nur drei Worte, auf gewöhnlichem, weissem, glattem Papier. Mein Gott, wie nichtig ist doch der Mensch.

Und ich entsinne mich, wie ich damals diese Worte schrieb. Was wäre, wenn statt dieses glatten, weissen Papieres, auf dem nur ein schwaches Gekritzel von Menschenhand hingeworfen, zu sehen ist — ein Spiegel da stünde? Ein Spiegel, der für ewige Zeiten das Antlitz des Schreibers in seiner ganzen Verzweiflung, seiner unerträglichen Seelenqual festhielte? Was wäre hier zu sehen?

Mein Tagebuch, mein Freundl Auf Deinen Blättern steht Lidotschkas Name, ein Teilchen ihrer selbst, und Du bist mein einziger Freund und Kamerad.

11. (24.) Juni.

Lidotschka ist am 14. März entschlummert, vier Tage nach der Einnahme von Premysl; sie erkrankte am zweiten Tag nach dem allgemeinen Frohlocken über die Siegesnachricht. Die ganze schreckliche Krankheit währte dreimal vierundzwanzig Stunden. Eine schwere Blinddarmentzündung, die zu spät erkannt wurde, da alle Aerzte in den Lazaretten be-

schäftigt waren und keiner sich freimachen konnte. Endlich kam irgendeiner von der Sfrasse herein, untersuchte sie, beruhigte uns und sagte, dass man noch warten müsse, Gefahr sei einstweilen keine vorhanden. Das Kind lag im Sterben, und er sagte, man müsse warten — und wir warteten. Er kam nochmals und behauptete mit einem dummen Gesicht, dass wir uns umsonst Sorge machten und ihn von wichtigeren Dingen abhielten. Verzweiflung im Herzen warteten wir, voll Angst und Sorge —- war es wirklich nichts Ernsthaftes? Wir lächelten einander zu, uns gegenseitig er-muhgend und betrogen uns selbst, Toren, die wir waren! lächelnd. Endlich kam der Chirurg aus dem Sapinischen Lazarett (es war peinlich gewesen, ihn zu rufen) und erklärte, dass es eine Blinddarmentzündung und — schon zu spät sei.

Wie konnte ich nur glauben, wie konnte ich nur warten!

Da lag meine Lidotschka, mein Kindchen, im Eieber, litt, stöhnte, starb — und wir warteten. Torheit, Wahnsinn! Ich sah ihr in die vertrauenden schwarzen Augen, küsste vorsichtig ihre vom Fieber gesprungenen Lippen, strich ihr die verwirrten Härchen glatt, wusch ihr vom Schweisse feuchtes Gesichtchen mit Eau de Cologne und glaubte, damit alles getan zu haben, fühlte mich sogar beruhigt. Und

wie sie litt, was für Setimerzen sie tiatte. So klein und solctie Schmerzen!

Am dritten Tag freilich war ich wie verrückt, schrie um jeden Preis nach einem Arzt, jammerte, weinte, schlug in Gegenwart einer Dame, die ich zu erweichen hoffte, den Kopf an die Tiirschwelle ... ich weiss gar nicht mehr, wo, in wessen Sprechzimmer sich dies zutrug.

Und was half es?

Mittags war ich irgendwo verschwunden, alle suchten nach mir, der Chirurg war schon zweimal bei uns gewesen, hatte bereits erklärt, dass es zu spät sei, zu spät für eine Operation, es lohne sich nicht, das Kind noch zu quälen. — Dann habe ich sie selbst in den Sarg gelegt, ihn auf den Tisch gestellt.

Und heute lebe ich noch, lebe wie wenn nichts geschehen wäre, gehe ins Bureau, plaudere mit Bekannten, lese über den Krieg. Wir werden überall geschlagen, überall zurückgedrängt, haben Polen und Galizien aufgeben müssen, werden das Spiel bald verloren haben. Der Gendarm Miasojedow hat Russland um dreissig Silberlinge verkauft. Das ist alles unwichtig. Ich hasse alle, die um mich sind.

Aber ich schweige, schweige.

16. (29.) Juni. Wie soll ich meinen Schmerz aussprechen,

meinen Schmerz, meinen grossen Schmerz. Es gibt keine Worte, keine Worte, keine Ausdrücke, kein Erfassen. Welche Quall Ich brauche nur in den Spiegel zu sehen, um in meinem vergrämten Gesicht zu lesen, was geschehen ist. Ich schaue und schluchze und kann's nicht begreifen, dort im Spiegel ein grauhaariger Tor, hier ein grauhaariger Tor; ich bin ergraut in dieser Zeit.

17. (30.) Juni. Stirbt irgend eine hohe Persönlichkeit, so

wehen schwarze Fahnen über die ganze Erde, alle Städte sind düster und allen ist klar, was geschehen ist. Wäre ich ein wirklicher Mensch mit einer starken Stimme und hätte ich die Gabe der schönen Rede, ich forderte die ganze Welt auf, meine Lidotschka zu beweinen. Aber ich bm nichts ... ich kann nur blöken wie eine Kuh; ja und selbst eine Kuh vermag sich besser auszudrücken, sie blökt die ganze Nacht und lässt niemand schlafen. Was bin ich? Ich geize mit mir selbst, winsle vor der Herrschaftstür . . . auf den ersten Ruf des Herrn wartend.