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und Gestosse widerlich war, dass ich den Platz nicht ohne Richtigkeit mit einem überfüllten Kahn verglich — wann aber kam mir das Verständnis?

Nein, nicht die gewähltesten Worte können den Anblick beschreiben, wenn Hunderttausende von überallher, durch alle Strassen und Gassen zu einem gemeinsamen Ort pilgern, um sich dort im gemeinsamen Gebet an Gott zu wenden. Zuerst fasste man es wie einen Scherz auf, etwas Gewolltes, eine Art Parade, aber als alle die Menschen kamen, Hess es sich in dem Gedränge nur noch schwer atmen, und neue kamen und kamen, es begann so ernst zu werden, dass mir kalte Schauer über den Rücken liefen. «Was soll das?» fragst Du Dich fast mit Entsetzen, sie hören nicht, sie antworten nicht, sie kommen, Menschen, Menschen, Menschen. Und schon der Umstand, dass sie Dir ebensowenig Beachtung schenken, wie Du ihnen, wirkt so ernst und feierlich, dass unwillkürlich jede Kritik, jede Frage verstummt und ein Zittern die Seele ergreift. Es bedeutet etwas Grosses, Notwendiges, wenn so viele Menschen sich ruhelos zusammenfinden und gemeinsam Gott anrufen — und ich, mit meinem armseligen Verstände, zweifle und streite gegen siel

Viele weinten in meiner nächsten Nähe, ganz ohne sich dessen zu schämen, trockneten

sogar ihre Tränen nicht ab, als wäre es heute allen erlaubt, vor allen anderen zu weinen. «Wie naiv ist doch das einfache Volk!» gelang es mir noch zu denken, indes ich auf einen starken Mann sah, der bitterlich weinte, er mochte ein Türhüter oder ein Kutscher sein, dann fühlte ich plötzlich, wie sich auch meine ausgetrockneten Augen mit Tränen füllten. Und noch beschämt darüber, noch nicht den Wert dieser Tränen erkennend, hob ich heuchlerisch die Augen empor . . . und dort, welcher Himmel! «Mein Gott, mein Gott,» dachte ich, «wie weit bist Du, und doch wie nahe.»

Und ein Beben erfasste mich, als hätte mich Feuer vom Himmel berührt. Es war, als erhöben mich unsichtbare Schwingen, hoch, hoch hinauf, bis zu den weissen Wolken und ich sähe von dort das ganze Land, das Russland heisst . . . und dies Land und kein anderes bedrohte eine solche Not, gegen diese Erde zogen Feinde mit Feuer und Bomben, für dies Land beteten wir, für seine Rettung. Und ich sah wieder zur Erde, sah weinende Menschen, eine ungeheuere Zahl, und ich gehörte zu ihnen, sie vertrieben mich nicht, nahmen mich voller Vertrauen an ihr Herz . . . wo war ich früher gewesen? Tori Und plötzlich liebte ich sie alle, liebe sie so, dass ich es mit meinem ganzen Körper empfinde; nein, ich kann nicht mehr, ich werde vor Liebe und

Zärtlichkeit gleicti sctireien müssen. Selbst jetzt, wenn ich mich dessen entsinne, möchte ich schreien.

Kann ich das denn mit Worten ausdrücken? Vergebliches Bemühen. Jetzt, nur wenige Stunden später, kann ich mir Russland nicht mehr so genau vorstellen, es sieht wieder wie eine Landkarte tür mich aus, damals aber verstand ich, sah ich, fühlte ich. Nein, ich sehe ein, dass sich so etwas nicht erzählen lässt. Rette Russland, o Herr, rette es aus der Tiefe!

Es wäre an der Zeit aufzuhören, aber immer wieder kommen mir die Tränen; mögen sie nur kommen. Nach Hause zurückgekehrt sah ich, wie die so shll gewordene Inna Iva-nowna eigenhändig Petjas Naschen putzte, ich erinnerte mich ihres Pawluschas und unfähig den Anblick zu ertragen, brach ich in Tränen aus wie ein Kind. Ich kniete vor ihr nieder (trotz der Anwesenheit des Kindermädchens, das übrigens auch zu weinen begann) und küsste ihre hilflosen alten Hände ... oh, wie sehr benötige ich der Verzeihung all dieser guten, ehrenhaften Leute, die ich so oft gekränkt habe. Wir haben alle Grund zum Weinen, alle.

Ich höre auf zu schreiben, weil es ja doch unmöglich ist, meine Gedanken klar auszudrücken, mögen sie unausgesprochen bleiben.

Nachts, das gleiche Datum.

Ich schlafe wieder einmal nicht, meine Seele ist zu tief erschüttert bis ins Innerste. Es ist kalt, mich fröstelt; immer denke ich an Russland. Was war, nun mich das Volk gelehrt hat, es und Russland zu lieben, meine erste Tat? Ich beeilte mich heimzukommen, um rascher meine eigenen Kinderchen Petja und Jenia liebkosen zu können, als wäre in dieser einen Handlung alles inbegriffen. Uebrigens war dieser Wunsch allein schon nach all der grausamen Kälte und Härte, mit welcher ich sogar ihre Existenz vergessen hatte, für mich märchenhaft. Ich brachte ihnen Beeren und Eis mit, was ich seit langem nicht mehr getan, und nun fürchte ich, dass sie sich den Magen verdorben haben, jenitschka macht mir Sorge, er ist so mager und seine nachdenklichen Augen erinnern mich an Li-dotschka. Und er war ein so fröhliches Kind gewesen . . . was mag wohl mit ihm vorgegangen sein?

Es wird mir wieder seltsam zumute. Nein, es ist besser in einer solchen Nacht still zu liegen, auch wenn man nicht schlafen kann; schreckliche Gedanken gehen mir durch den Kopf: — die Kinder, Russland.

Saschenka habe ich gar nicht gesehen, sie war tagsüber während meiner Abwesenheit zu Hause und kann jetzt wahrscheinlich nicht ab-

kommen; schade! Ich ginge gerne zu ihr ins Lazarett, aber ich war so lange nicht dort, dass es mir peinlich ist. Ach Saschenka, meine Saschenkal . . .

Dies also bedeutet «Russland».

16. (29.) Juli.

Wieder bin ich zerquält und verzagt. Mir ist, als wäre ich für eine Weile aufgewacht, ich sah irgend etwas, vergass es, und lebe nun wieder in einem dumpfen, endlosen Traum. Ich lese die Zeitungen, — es ist furchtbarl Und durch die Stadt schwirren noch schrecklichere Gerüchte, im Kontor erzählen sie ganz unwahrscheinliche Dinge, dass Warschau schon gefallen sei und noch vieles andere, von dem es besser ist zu schweigen. Ich habe kein Vertrauen zu unserer Duma, aber es ist doch gut, dass sie einberufen wird. Unheimlich ist es.

19. Juli (1. August).

In der Stadt herrscht grosse Niedergeschlagenheit und alle gehen mit traurigen Gesichtern umher. Nur manchmal lacht irgend ein Hooligon laut auf beim Anblick eines aufgeblasenen, gleichgültigen Kaufmann-Diebes oder Lieferanten, der auf dicken Beinen einherstolziert. Diese fetten Schweine!

Mag sein, dass in eben dieser Nacht, da ich diese Zeilen schreibe, die Deutschen

in unser Warschau einziehen, ich sdiliesse die Augen und sehe deutlich, wie im Kinematograph, ihre spitzen Helme vor mir, Feuersbriinste lodern auf, in den Häusern verbergen sich zu Tode erschrockene Menschen, . . . aber was nützt das Verstecken! Und ich stelle mir vor, dass dies nicht Petrograd sei, wo ich in nächtlicher Stille schreibend sitze, sondern Warschau; über die Brücke marschieren die Deutschen in die Stadt ein . . . wie unsagbar schrecklich wäre dies) Und dann plötzlich ein freches, lautes Pochen an der Tür: «Macht auf!», ein Deutscher tritt ein, sieht sich um, geht durch alle meine Stuben, als wäre er bei sich zu Hause, fragt mich aus, und wenn er mich mit seiner Flinte nicht totschiesst, so hängt das einzig und allein von seiner Gnade ab. Wie könnte ich ihm in die teutonischen, blauen Augen sehen? Wäre es denn möglich, ihm zuzulächeln . . . freilich nur aus Höflichkeit, aber immerhin zu lächeln? Nein) Ich fühle, dass ich diese Nacht nicht schlafen werde.

26. Juli (8. August). Die Staatsduma hat ihre Sitzungen begonnen, Gott gebe ihr Kraft. Ich lese diese entsetzlichen Berichte, lese jede Zeile wieder und wieder und kann meinen Augen nicht trauen. Wir haben keine Munition. Sie sagten, dass es Munition geben würde und haben uns be-

tiogen. Wen haben sie betrogen? Man denke nur: keine Munition! Schön, sollte man mit der blossen Hand den Deutschen Widerstand leisten? Mit blosser Hand, man muss sich das nur vorstellen)

Aber erlaubt, meine Herrschaften, soll das Russland sein? Das kann es nicht sein, ich kann das nicht annehmen, mich nicht in den Gedanken hineinfinden. Und wenn dem so ist, welche Bewandtnis hat es mit jenen Betern, die auf dem Kasan'schen Platz weinten, beteten, zu Gott schrieen? Haben die auch betrogen? Sie riefen zum Himmel, ich selbst rief mit, hörte die Rufer, sah ihre heissen Tränen, das Beben ihrer Seelen. Dort war nichts von jener schmählichen Angst, die Verbrecher vor dem allsehenden Auge empfinden. Oder betete jeder nur für sich, auch jene, die betrogen?! Ich begreife nichts mehr, aber eines weiss ich und bin bereit, es auf das Leben meiner Kinder zu beschwören — das ist nicht Russland, so ist es nicht!