Ich kann den Eindruck nicht wiedergeben, den ich zuerst empfand, als ich die Reden unserer Abgeordneten las. Es war, als ob mir ein deutsches Bajonett ins Gehirn führe, alles in Scherben fiele, ich war wie betäubt, wie erblindet, als ob ich den Boden unter den Füssen verloren hätte! Ich kann auch jetzt kaum in menschlicher Sprache reden, vermag
bloss sinnlose Worte zu stammeln, die Augen aufzureissen, kann meinen Gedanken keinen richtigen Ausdruck verleihen. Ja, wir stehen alle mit aufgerissenen Augen da, nicht nur ich armer Sünder. Sogar in unserem geschwätzigen Kontor, wo sonst alle Fragen spielend gelöst werden, gehen sie mit weitaufgerissenen Augen umher, lassen fast alle Arbeit liegen und stehen, sitzen in Hemdärmeln, rot wie aus kochendem Wasser gezogene Krebse, lesen die Zeitungen zum zehnten Mal durch und jagen den Laufburschen ununterbrochen nach neuen Ausgaben. Beim Lesen sprechen sie, schlagen mit der Faust auf den Tisch, schreien:
«Nein, habe ich gesagtl»
«Was haben Sie gesagt? Wir haben nicht gehört! ...»
«Nein, das haben Sie nicht gehört, ich habe gesagt ...»
Ja gesagtl Gesagt haben sie es scheinbar alle. Die ganze Not kommt daher, dass niemand zugehört hat. Alle haben sie gesagt und gewusst, was geschehen wird, haben alles vorausgesagt... diese Kontorprophetenl Und wer hatte Part-Grad eingenommen? Und wer spazierte durch Berlin und kaufte sich eine Krawatte in der Friedrichsstrasse? — Mich deucht, als hätte ich einmal etwas Aehnliches gehört.
Merkwürdig ist noch eines bei unseren Kontoristen, sie schreien, schimpfen, sagen solch entsetzliche Dinge, dass man glaubt, sie würden in der Nacht kein Auge zuschliessen können — einen Äugenblick später sind sie voll Heiterkeit, sagen sich gegenseitig Liebenswürdigkeiten, prahlen fast: «Seht, so sind wirl Und wer spielt den «Satyriker», und wer geht munter und vergnügt zu einer gemeinsamen erlesenen Sakuska, in unserem abgelegenen Zimmer, fern den Augen des Vorgesetzten? Danke, wenn nur die Wodka nicht ausgeht) . . . ach Du Kontori
Aber wer mich ebenfalls noch in Erstaunen versetzt, das ist meine Saschenka. Ich empfinde ein unüberwindliches Verlangen, diese neuen und schrecklichen Eindrücke nicht allein ertragen zu müssen, dachte natürlich vor allen anderen Menschen an sie und brachte es sogar ferhg, mir vorzustellen, wie wir miteinander ein ernstes, bedeutsames Gespräch führten, vielleicht auch zusammensitzend einfach schwiegen, und sich uns in diesem Schweigen das für uns Wichtigste enthüllen würde. Und es geschah etwas höchst Seltsames.
Ich frage sie mit weitaufgerissenen Augen: «Nun, hast Du gelesen?»
«Was?»
«Wieso was? Die Berichte über die Sitzungen.»
«Was für Berichte? Ach ja, die habe ich gelesen. Ich lese so etwas nie, habe es nur durchgesehen. Gott weiss, was drin stand.»
Eifrig, die Gleichgültigkeit, die in ihrem gekünstelten Ausruf lag, noch nicht erkennend, stürzte ich mich in eine Erklärung, sprach lange und beharrlich, bis ich plötzlich an ihrem nachdenklichen Gesicht, den ausdruckslosen Augen und einem fremden Zug um den Mund bemerkte, dass sie mir nicht einmal zuhöre und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt sei. Dies kränkte, ja empörte mich sogar . . . nicht persönlich natürlich, aber in Beziehung auf die für Russland so wichtigen Dinge, die ich besprach.
«Dir fehlt vollkommen jedes staatsbürgerliche Empfinden, Sascha,» sagte ich kalt und von oben herab. Sie errötete und es schmerzte, diese Röte auf ihrem blassen, erschöpften Gesicht zu sehen.
«Sei nicht böse, Ilenka, Täubchen. Es ist wahr, ich bin ein wenig in Gedanken versunken gewesen und habe nicht alles gehört. Das ist doch auch gar nicht so wichtig.»
Ich wurde wieder ärgerlich, schrie sie sogar an:
«Was soll das heissen, nicht wichtig! Ucberlege doch, was Du sprichst! Nur Verräter, die sich über den Untergang Russlands freuen, können sagen, dies sei nicht wichtig.
Wir haben doch keine Munition. Stell Dir doch vor, die bewaffneten Deutschen können unsere opferwilligen, gutmütigen Soldaten spielend schlagen ... tut Dir das nicht leid?»
Augenscheinlich ergriffen sie diese Worte, sie sah mich gross an und sagte leise und erschrocken: «Ja, es ist schrecklich, aber wie kommt es?»
«Darüber denken alle nach, wie es kommt, und Du sagst es sei unwichtig. Es ist furchtbar wichtig, Saschenka, so wichtig, dass man darüber den Verstand verlieren könnte.»
Dann aber wurde sie zu einem Soldaten gerufen, dem man die Hände amputiert hatte, und der sich weigerte, zu essen, wenn nicht Saschenka ihn fütterte; sie vergass mit einem Male alles, lächelte mir gleichgültig und entschuldigend zu, küsste mich flüchtig, flüsterte mir ins Ohr: «Sei nicht böse, mein Täubchen, ich kann nicht» . . . und lief weg.
Was kann sie nicht?
29. luh (11. August). Eine Ueberraschung, plötzlich ist unser lieber Ingenieur und Schwager in Moskau aufgetaucht und nicht nur dies, er schrieb mir sogar einen liebenswürdigen Brief und sandte Geld mit. Er entsinnt sich mit einem Mal, dass Mütterchen Inna Ivanowna nun schon seit fast
einem Jahr bei uns lebt, und schlägt mir vor, die Hälfte ihrer Verpflegung zu bezahlen. Aber kein Wort über Sascha, den Bruder Pawluscha und meine Lidotschka. Ich kochte vor Wut über diesen Liebesbrief, habe auch Saschenka kein Wort davon gesagt, um sie nicht aufzuregen. Eine solche Frechheit) Schon aus im Kontor zirkulierenden Gerüchten hatte ich erfahren, dass er irgendwelche Armeeheferun-gen übernommen und sich dadurch fast eine Million erworben habe . . . man nennt das «erarbeiten»! Und jetzt bietet mir dieser schmutzige, herzlose Mensch, der an Russlands Verderben Mitschuld trägt, einen seiner dreissig Silberlinge an. Nein, Nikolai Jewge-nitsch, lieber will ich verhungern, wenn es sein muss, als auch nur eine Kopeke von Ihnen annehmen. Es klebt Blut an Ihrem Gelde, abscheulich ist es, befleckt, man könnte seine Hände nicht mehr rein v/aschen, hätte man es einmal berührt. Und Inna Ivanowna, unserer Mutter ziemt es nicht, von Ihrem Blutgelde zu leben, ihr, die in diesem Kriege einen Sohn, den lieben, feuern, ehrenhaften Pawluscha verloren hat. Mein Gott) Warum vernichtest Du uns Armselige, Kleine in Deinem Zorne! Strafe die Reichen und Mächtigen, die Räuber, die Verräter, die Lügner und Schurken! Wie lange werden sie uns noch verhöhnen, ihre goldenen Zähne zeigen, in Automobilen vor-
beisausend uns frech und offen ins Gesicht lachen?
Man könnte sich aus Hilflosigkeit und Verzweiflung den Kopf an der Wand einrennen, wenn man sieht, wie unantastbar sie in ihrer Schamlosigkeit sind. Sage es ihnen — und sie werden spotten! Beschäme sie — und sie werden belustigt sein! Flehe sie an — und sie werden lachen! Sie haben Russland beraubt und verkauft — und schlafen ruhig, wie auf den weichsten Daunenkissen.
Es ist furchtbar zu bedenken, dass sie keine Strafe treffen wird. Es sollte nicht so sein, dass auf der Welt die Schurken triumphieren, das ist nicht gut, daran geht alle Achtung vor dem Guten verloren; es gibt keine Gerechtigkeit mehr, das ganze Leben verliert seinen Sinn. Dagegen sollte man Krieg führen, gegen diese verbrecherischen Gauner, und nicht kritiklos einer über den andern herfallen, nur weil der eine ein Deutscher, der andere ein Franzose ist. Ich bin ein sanftmütiger Mensch, aber in einem solchen Kriege ergriffe auch ich die Waffen, — auf Ehrenwort! Ohne Mitleid, ohne Zaudern schösse ich auf sie, direkt in die Stirne.
Wie kann man nur dies ertragen? Dieser Brief hat mich aufs höchste erregt, meine ganze Seele mit wilden Gedanken erfüllt. Dafür starb meine Lidotschka, die Unschuldigste
der Unschuldigen, diese Blume, Herr, aus Deinem Garten. Mein Kindchen, mein liebes, unendlich geliebtes, unendlich teueres, warst Du denn eine geraubte, mit Schmutz befleckte Million, dass Du meinen Bettlerhänden entrissen wurdest?