los, wie das in der Jugend schon so zu sein pflegt. Heute aber mit sechsundvierzig Jahren und einer Familie . . .
Wem nütze ich jetzt? Welches Recht habe ich zu leben? Welche Rechtfertigung habe ich ausser meiner Arbeit? Solange ich arbeitete, den hilflosen Kleinen Blut und Nahrung gab, war ich ein Mensch, ein Mann, der das Recht auf Achtung besass. Aber jetzt, was bin ich jetzt? Ein richtiger Schmarotzer, ein vollkommen verächtliches Nichts, so sehr ein Nichts, dass ich nicht nur die Anderen, sondern auch mein eigenes, armseliges Leben nicht erhalten kann. Jeder beliebige Sperling, der auf der Strasse Mist aufpickt, ist mehr wert und hat mehr Existenzberechtigung als ich. Solange ich arbeitete, exisherte ich, schien ich mit meinen Händen das allgemeine Rad drehen zu helfen, aber jetzt . . . seltsam: eigentlich existiere ich gar nicht mehr. Eine qualvoll unerträgliche Lage, ein Lebendiger unter anderen Lebendigen, der sich im Inneren als Phantom, als wesenlose Erscheinung erkennt. Meine Stimme hat sich verändert, klingt leise und einschmeichelnd, mein Gang ist ein anderer geworden, als schritte ich zu nächtlicher Zeit durch ein Haus, bemüht, keinen Lärm zu machen, und nur der Umstand, dass ich dies alles in mich verschliessen muss, hindert mich daran, selbst Inna Ivanowna darauf aufmerk-
sam zu machen, dass der, der morgens das Haus verlässt und abends wieder heimkehrt-kein lebendiger Mensch sei, nur ein Phantom ist. Und wie ich vor Saschenka Komödie spiele, wie ich unsere seltenen Gespräche unter dem Vorwand der Arbeit abkürze. Arbeit)
Natürlich begreife ich, dass ich an dem Geschehenen keinerlei Schuld trage, nur ein Opfer bin, aber hat das denn irgendwelche Bedeutung? Nur ein Mensch, der nicht die gerinste Selbstachtung hat, kann sich mit dem Gedanken trösten und sogar einen gewissen Stolz dabei empfinden, dass er ein Opfer sei; ich sehe hierin keinen Grund zum Stolz. Im Gegenteil, je mehr ich über mich nachdenke, desto verhasster wird mir ein Mensch, der unfähig, beschränkt, von allen Kleinigkeiten, jeglichem äussern Geschehnis abhängig ist. Und bin ich so einer, dass ich jetzt ruhig die Hände in den Schoss lege?
Wo ist das, was ich geschaffen, wo sind die unauslöschlichen Spuren meiner Persönlichkeit, wo der Stempel, den meine Hände aufgedrückt haben? . . . Anderthalb Stühle, ein Bett, ein Tisch bleiben den Kindern und mir, das ist alles! Aber nein, was sage ich da? Ausserdem haben wir noch Kommoden, Federkissen und vierhundert Rubel in der Sparkasse, überdies ein Los, mit dem man zwei-
taused Rubel gewinnen kann. Interessant wäre es festzustellen, was ich besitze, was ich mit der Arbeit eines ganzen Lebens erworben habe; sehr interessant und lehrreich.
Eigentlich ist es lächerlich, aber wenn ich bedenke, dass dies alles ist, so kommt es mir doch furchtbar und beschämend vor. Einen Monat können wir noch in dieser Wohnung bleiben, aber wohin dann? Meine Kinderchen, meine armen Kinderchen, ihr habt einen guten Vater!
25. August (7. September).
Zu allen Bekannten bin ich gelaufen, an etwa zweihundert Türen habe ich geklopft, von überallher Empfehlungsschreiben gebeten — kein Teufel braucht einen «ehrlichen und gewissenhaften Arbeiter». Nur der Ratschläge gibt es viele. Ein grosser Patriot rät mir, für den Krieg zu arbeiten und zusammen mit dem reichen Rabuschinsky die «Handwerker zu mobilisieren», ein anderer, der schon mehr aufs Praktische bedacht ist, meint, ich solle versuchen, am Kriege zu verdienen, Nutzen aus ihm zu saugen, so sorglos wie das unschuldige Kind Milch aus der Mutterbrust saugt; es ist ja wahr, Nikolai Jewgenitsch hat eine Beschäftigung gefunden, die ihn gut ernährt.
Mag sein, dass ich den ersten weisen und patriotischen Rat befolgte, aber wer wird mei-
nen Petka und Jenka «mobilisieren»? Auf den zweiten kann ich in der ganzen Bekümmernis meines Herzens bloss antworten, dass icti nicht weiss, wo sich die wohltätigen Brüste befinden, an denen ich saugen soll.
Dumm bin ich, ungeschickt, versteh mich bloss auf eine einzige, bloss auf meine frühere Arbeit. Mein Gott, mein Gott, mit welchem Neid, welcher Verzweiflung, welch niedriger BegehrHchkeit blicke ich auf die Reichen, auf ihre Häuser mit den Spiegelfenstern, ihre Automobile und Wagen, auf den herausfordernden Luxus ihrer Kleidung, ihre Diamanten, ihr Goldl Ich bin doch ein ehrlicher Mensch; all dies ist leeres Geschwätz, ich bin nur neidisch und unglücklich darüber, dass ich selbst unser Leben nicht so aufzubauen vermag. Wenn alle stehlen, warum muss gerade ich — im Namen irgend eines Ehrbegriffes, über den man nur spotten kann — verhungernl
Leichter wäre es in den Tod zu gehen, als Saschenka mitzuteilen, dass ich meine Arbeit verloren habe und jetzt nichts mehr bedeute. Wie ich mich früher doch anders fühlte, welchen Stolz, welche Wichtigtuerei und Ansprüche ich an den Tag legte: «Ich muss Dich dringend bitten, Dich um mein Essen zu bekümmern; mein Magen ist nicht nur für mich, sondern auch für Euch alle von Wichtigkeit, was soll geschehen, wenn ich erkranke? . . .
«Ich bitte Euch nicht zu lärmen, ich will ausruhen?» «Warum ist der Tee ganz kalt?» «Warum ist mein Rock nicht geputzt, am Aermel sehe ich ein Loch! O, Ihr!»
Ich spare, indem ich weniger esse, das Abendessen habe ich unter dem Vorwand, meinen wertvollen Magen zu schonen, ganz aufgegeben. Hunger verspüre ich keinen. Gestern fiel es mir plötzlich ein, dass ich bei meinen vielen Gängen durch die Stadt die teueren Schuhsohlen rasch abnütze, und so setzte ich mich für fast zwei Stunden im Ru-mianischen Square auf eine Bank, sass mit emporgezogenen Füssen, um die Schuhe zu schonen. Wie weit wird diese, meine Qual noch gehen? Wird sie kein Ende, keine Grenze finden? Kein Fleckchen ist mehr an mir, in das ihr Stachel nicht schon eingedrungen wäre. Im Gedanken stelle ich mir mein Herz vor, und sehe kein lebendes, von erhabenen Gedanken und Wünschen erfülltes Menschenherz vor mir, sondern etwas, das einer angeschwollenen Blutwurst gleicht. Was habe ich denn verbrochen, um so gefoltert zu werden, Tag und Nacht diese unmenschliche Strafe erdulden zu müssen?
Ist dies nicht eine Verhöhnung des Menschen? Und wie lange will ich sie denn noch ertragen, mich immer mehr erniedrigen, meine Stimme zu einem lakaienhaften Geflüster her-
absinken lassen, mich demütig verbeugen? Sollte ich etwa Angst haben?
Gestern im Square blickte ich lange auf die verstaubten Wege, auf die Bäume mit welken Blättern, auf die fernen Häuser, diesseits der Neva; — plötzlich ward mir klar, dass ich in kürzester Zeit dies alles verlassen, dorthin kommen könnte, wo meine kleine Lidotschka, mein unendlich geliebtes Kindchen ist. Und dieser Gedanke war so voll leuchtenden Glückes, ein solch himmlisches Licht erhellte dabei meinen armen Kopf, als sei ich für einen Augenblick reicher und freier als die reichsten Menschen der Welt.
Wozu kämpfe ich eigentlich, kämpfe ich gegen die Tücke des Schicksals und schone meine Schuhsohlen, wie ein redlicher Bettler? Die Erlösung und das Glück sind jedem Unglücklichen so nahe, wo ein tiefes und reissen-des Wasser fliesst
27. August (9. September). Nichts.
28. August (10. September). Heute begab ich mich, dem guten Rate eines unserer gewesenen Kontoristen gemäss in ein Cafe am Newsky, wo sich die «Geschäftsleute» treffen, um nach eventuellen Armeelieferungen Ausschau zu halten. Jeglicher Erfolg hing von meiner Gewandtheit ab,
ich hätte sprechen, irgendeine Anekdote erzählen, bekannt werden und mich dann den Leuten ganz einfach aufdrängen müssen
Natürlich fehlte mir alles, die Gewandtheit, die Anekdote. Im Anfang lächelte ich alle an, in der Hoffnung, dadurch ihre Sympathien zu gewinnen, hustete, rief voller Gewandtheit nach Tee und Piroggen, dann aber setzte ich mich rasch und verfiel in ein steinernes Schweigen, als hätte ich meine Stimme verloren. Diese Leute verwirrten mich, machten mich stumpfsinnig mit ihren grossen Worten, blind und fast bewusstlos mit ihren raschen, leichten Bewegungen. Wie sie sich hielten, wie sie dasassen, wie sie auf alle blickten und sofort wieder zu ihren früheren Gesprächen zurückkehrten. Und sieh nur, nach einer Minute wurden sie mit einander bekannt, rauchten, flüsterten, steckten die Köpfe zusammen, beschimpften sich gegenseitig, umarmten sich fast, wie die ältesten Freunde. Ihren oft ziemlich laut geführten Gesprächen konnte man nur schwer folgen, der Sinn derselben aber war ganz klar: was man verkaufe, was man esse, was man stehle, wen man ruiniere und verrate. Das nennen sie «erarbeiten»!