mehr haben wollte als die anderen. Früher hiess ich dies Verlangen gut. — Mit einer grossen Neugierde, die den wirklich Lebenden unverständlich sein muss, betrachte ich die Stadt wie sie, aus was tür Material sie erbaut ist, weshalb sie Plätze, Strassen und Neben-gässchen hat. Ich verstehe die Bedeutung der Trambahnen. Es gefällt mir, dass die Häuser in Wohnungen abgeteilt sind, dass Porhers die Türen hüten. Die Ufer aus Granit gefallen mir, ich sah, wie die neue Ochtenskische Brücke aufgezogen wurde, um die Dampfschiffe durchzulassen und auch dies gefiel mir; unendlich gefällt mir auch das Menschengetriebe am Bahnhof, wohin ich alle Tage gehe. Zu gleicher Zeit aber habe ich als Philosoph und abseits stehender Mensch nicht das Geringste dagegen einzuwenden, dass all' dies in die Luft gesprengt werde, die Brücken, die Ufer, die Gebäude; es wäre höchst interessant. Man kann sich ungefähr ein Bild davon machen, wie alles brennt und zusammenbricht und wie die Stadt nachher, wenn alles zerstört ist, aussehen würde. Sehr niedrig wird es sein.
Heute sah ich zwei unserer Aeroplane fliegen, einer derselben hielt sich ganz nahe am Rande einer ungeheuren Wolke; ich wäre nicht ungern mit ihnen geflogen. Ueberhaupt fühle ich mich als «Lord» und, Scherz beiseite, ich empfinde für Augenblicke ein recht
angenehmes Gefühl. Es tut mir nicht leid um das Geld und ich mache allen wie ein Lord Ge-schenke, bereite allen Ueberraschungen; habe den Kindern wieder etwas zum Vorschmack gekauft, Saschenka kandierte Früchte mitgebracht, die ich ihr mit einer schönen Verbeugung überreichte. LordI . . .
3. (16.) September, Donnerstag.
In der Stadt summt es, wie in einem Bienenstock, die Menschen laut sprechend auf der Strasse beisammen: die Staatsduma ist aufgelöst — und sie war unsere einzige Hoffnung. Es ist seltsam, was sich die Petrograder alles erlauben, sie schreien aus voller Kehle Dinge durch die Strassen, die sie früher nicht einmal flüsternd im Schlafzimmer auszusprechen gewagt hatten. Es herrscht völliger Wirrwarr. Wenn ich auf der Strasse gehend all dies erregte und sinnlose Getöse höre, denke ich mir. Helden! . . . übrigens was geht es mich an?
Ich begab mich zusammen mit anderen Müssiggängern zum Taurischen Palast, es lohnte sich wirklich nicht. Mit einer kleinen Anzahl Neugieriger sah ich mir das Portal und die heraustretenden Abgeordneten an . . . es war nichts zu sehen, es sind Leute wie alle anderen. Sie benahmen sich, als wäre es an-
genehm und erfreulich, dass gerade ihnen die historische Rolle zufiele, in jenem Äugenblick auseinandergehen zu müssen, da das «Vaterland in Gefahr» ist. Ihre Schritte klangen bedeutungsvoll, sie Sassen bequem in ihren Equipagen und sahen alle in so hohem Masse Professoren ähnlich, dass man das Lachen nur schwer verbeissen konnte.
Als ich aber darüber lächelte und einen kleinen Scherz machte, nannte mich ein junger Mensch einen vom «schwarzen Hundert». Warum tat ich es auch? Ich beschloss nunmehr die Versuchung zu meiden, um nicht am Ende noch totgeschlagen zu werden, stand dann noch lange auf der Ochtenskischen Brücke und warf schliesslich sechs Kopeken hinaus, um mit dem Dampfer bis zum Wassili-Ostrow zu fahren.
Es zieht mich jetzt immer zum Wasser hin. Das Sprühen der Wellen und die kühle Brise, die einem ins Gesicht weht, wenn man dort sitzt, haben etwas Beruhigendes . . . aber auch etwas hoffnungslos Trauriges und Quälendes.
4. (17.) September. Ich habe jetzt erfahren, was die Leere ist. Es ist dies etwas Schreckliches und Unge-wöhnhches. Ueberall ist sie, von mir ausgehend bis zum Monde, den ich am Abend vom Englischen Quai aus betrachtete. Besonders
furchtbar und ungewöhnlich ist es, dasä sie alle Häuser und Wohnungen, Mauern und Decken überflutet. In jedem Haus, in jedem Zimmer herrscht die Leere. Hat sie aber einmal alle Mauern überschwemmt, so wird, dies deucht mich, im Verlaufe eines Monats auch von den Sternen nichts übrig bleiben.
Besonders grässlich war es gestern um das Morgengrauen. Ich war in der Nacht eingeschlummert und hatte einen bösen Traum gehabt, dann kam Lidotschka im Traum zu mir, und ich erwachte. Ich konnte, von Unruhe er-fasst, nicht mehr einschlafen, ging in mein neues Kabinett hinüber und setzte mich aufs Fensterbrett. Es begann bereits zu dämmern, aber ein leiser Regen machte alles grau und eintönig, man sah keinen Anfang und kein Ende. Und da empfand ich zitternd die grosse Leere, die im Zimmer herrschte und aus dem Zimmer hinaus in die Unendlichkeit flutete. Alles ist Leere, und der einzige Unterschied, dass jene Leere, die in den Zimmern haust, sich ein wenig erwärmen lässt, damit der Mensch nicht vor Kälte sterbe. Und das, was hier auf dem Fensterbrett sitzt, dachte ich weiter, ist ein Mensch, um den herum sich die Leere breitet. Die erwärmte Leere wird Wohnung genannt; bald werde ich keine Wohnung mehr haben.
Und dann bemerkte ich, das ich wieder nur halb bekleidet da sass, wie einst, und noch mehr als damals einem Wahnsinnigen glich. Und so langbeinig, so graubärtigl Ilia Petro-witsch. Du bist erledigt, Ilia Petrowitsch.
Als ich mich heute zur Ruhe begeben wollte, war es bereits ein Uhr nachts, doch blickte der Mond durchs Fenster und ich be-schloss spazieren zu gehen und mir den Mond anzusehen. Es ist unangenehm, dass der Portier und der Hausmeister, iedesmal wenn ich des Nachts ein- und ausgehe, darum wissen; zu der Wohnung habe ich meinen eigenen Schlüssel. Wenn mir etwas zustossen sollte, brauchte dies niemand aufzufallen. Jenitschka ist ein süsser Junge.
6. (19.) September.
Welch' entsetzliche Vision hatte ich, eine Vision, die Wirklichkeit war. Zufällig befand ich mich am Finnländischen Bahnhof, als einige unserer Invaliden aus Deutschland eintrafen'. . . Geheilte, Zurückgekehrte, also nichts Furchtbares: was ist da weiter dabei? . . .
Ein blinder, ganz in seine eigenen nichtigen Angelegenheiten vertiefter Tor, hatte ich nicht begriffen, warum sich eine solche Menge auf dem Bahnhof drängte, dachte es sei etwas Heiteres, Festliches. Sah nur die Blumen, die
Fahnen und Kreuze, wie bei einem Empfang der Jugend; als ich aber erfuhr, um was es sich handle, ward mir kalt und ich wartete mit Schaudern auf das Eintreffen des Zuges. Ich konnte mir nicht vorstellen, welches Entsetzen meiner harre.
Und als sie dann kamen, ohne Arme, ohne Beine, als die Blinden und Krüppel vorbeigeführt wurden, die Musik spielte und man ihnen militärische Ehren erwies, glaubte ich, das Herz müsse mir brechen und begann inmitten all dieser Menschen zu weinen. Ich schloss die Augen und lauschte: man hörte keine einzige Stimme, nur das Schlürfen der Schritte, das Klopfen der Holzbeine auf der Plattform, — und die Musik spielte ... es ist schwer zu verstehen, was vorging. Ich öffnete die Augen, glaubte ihnen nicht trauen zu dürfen, in grellfarbige Hemden gekleidet, rot und blau, standen die Invaliden da, wie die Bräutigame aus dem Dorfe, — aber ohne Augen, ohne Beine . . . sind dies die Bräutigame unseres heutigen Mütterchens Russland? Was bin dann ich, der Zuschauer?
Dann setzten sie sich nieder und assen; auch ein Bild! Assen das hefmische Brot des eigenen Bodens und weinten; unsäglich wehevoll war es, die erschöpften Gesichter zu sehen, die so wohlbekannt erschienen, als wäre jedes das eines Freundes oder Bekann-
ten gewesen. Man richtete an sie Reden, be-griisste sie . . . icti aber sctiaute auf den mir am näctisten sitzenden blatternnarbigen, erblindeten Soldaten, sali wie seine Backen-knoctien bebten, er nicht imstande war, den Löffel zum Munde zu führen, und da erfasste mich das Gefühl, als müsste sich die Erde zu meinen Füssen öffnen und mich verschlingen, wie etwas Unreines. Und dann kam ein hübscher junger Offizier und sah seinen einarmigen Bruder, der kaum dem Knabenalter entwachsen; und wie sie einander anlächelten, unentwegt lächelten, da konnte ich mich nicht länger beherrschen, schob mich durch das Gedränge, ich weiss nicht mehr recht, wie es mir gelang durchzukommen, ging in eine Ecke des Bahnhofs, wo niemand war, und verneigte mich dreimal bis zur Erde.