«Küss' sie nicht, sie sind voller Schmutz, ich war seit einem Monat nicht mehr im Bad. Küss' sie nicht!»
Doch kümmerte sie sich nicht darum, denn sie ist eine solche Frau. Es ist dies aber eine peinliche Erinnerung, der ich nicht gerne Worte verleihe; auch entsinne ich mich nicht genau, ob meine Haare wirklich so schmutzig waren, wie es mir vorkam. Ich war vom Weinen ganz schwach geworden, alles drehte sich vor meinen Augen, so dass ich mich an der Wand oder am Tisch festhalten musste, um nicht zu fallen. Nach einigen Minuten ging Saschenka hinaus, um ihren Pflichten nachzukommen, und ich sah mich im Zimmer um, wo all' dies vor sich gegangen war, wischte mir das Gesicht ab, versuchte mich zu be-
ruhigen. Als ich aber auf der Wand das weisse Gewand mit dem roten Kreuz erblickte, das mir von heute ab heilig ist, wie meine Sa-schenka selbst, begannen meine Tränen von Neuem zu fliessen. So brachte mich Sa-schenka nach Hause, ich wandte mich ab, während der Porher die Tür aufschloss. Ich versuchte zu sprechen, es kam aber natürlich bloss wirres Zeug heraus, und Saschenka unterbrach mich mit zärtlichen Worten:
«Du musst nicht, sprich heute nicht, beruhige Dich. Morgen werden wir reden.» Es erwies sich, dass sie für ein paar Tage Urlaub genommen hatte.
Ich erinnere mich bloss undeutlich, was zu Hause geschah. Alles schien sehr hell und ich ging in den Zimmern umher wie ein Geburtstagskind und lächelte dumm und beglückt. Küsste die schlafenden Kinder der Reihe nach, küsste Inna Ivanowna, die von Saschenka aufgeweckt worden war, und weinte mit ihr. Dann wurde der Samowar gebracht, ich trank heissen Tee und meine Tränen fielen in die Untertasse, unbegründete Tränen, die mir ohne Unterlass kamen, ich dachte wie heiss der Tee sei und weinte vor Rührung und Glück.
Saschenka machte mir ein Bett im Kabinett zurecht, sie fand, dass ich dort mehr Ruhe
haben würde, gab mir ein reines Hemd und brachte alles in Ordnung. Und als ich nun so rein und weiss, im reinen, weissen Bette lag, die Hände auf der Decke gefaltet, und sie das grüne Lämpchen auf den Tisch neben mich stellte, sich hinsetzte, ein Buch nahm, um mir daraus vorzulesen, da hatte ich wirklich die Empfindung, als wäre ich schwer verwundet gewesen und begänne jetzt zu genesen. Und so wohltuend war die Schwäche, die mich fast hinderte die Augenlider zu heben, um im Lichtkreis des Lämpchens die Decke, die Lampe, Saschenkas Kinn das ich gerade noch erblicken konnte, zu sehen.
Sie las Gogol, und wenn ich auch nur Bruchstücke hörte, so war es doch interessant und angenehm, wie wenn man in einem guten Traum andere Leute, Wege, Felder sieht. Ich vernahm die Worte: «Selifak», «Petruschka», «Kalesche», und sah dies alles schon vor mir, zu gleicher Zeit aber auch das Bild der dunkel dahinfliessenden Newa, der Automobile und des Vorübergehenden, der mich bei der Hand packte, dann kam wieder die Kalesche mit ihren Schellen und ein langer, langer Weg ... so schlummerte ich ein. Für einen Augenblick erwachte ich wieder, am ganzen Körper zitternd, sah den Lampenschein, hörte Saschenkas Stimme — und verfiel dann in einen tiefen Schlaf.
Als ich am Morgen erwachte, sah ich Sa-schenka am Tisch sitzen und in Tränen aufgelöst mein törichtes Tagebuch lesen. So blass war sie, so lieb nach der durchwachten Nacht, die sie um meinetwillen schlaflos zu-r gebracht hatte. Meine Saschenka, Saschenka, Du meine Heiligel
12. (25.) September.
Wir haben die Wohnung aufgegeben, und bei Finotschka, Saschenkas Freundin, zwei Zimmer gemietet, die früher von einem Flüchtling bewohnt wurden. Den Flüchtling haben wir gewissenlos vertrieben, wir sind selbst Flüchtlinge. O diese Finotschka — mit ihrem ewigen Lachen! Ach, mein Gott, wie angenehm sind doch diese kleinen Stübchen, diese harmlos lachende Finotschka meiner Empfindsamkeit.
Mir ist zumute, als sei ich in einen Palast gekommen, reich und frei, wie ein Zar! Finotschka hat einen Kanarienvogel, ich sitze wie ein Narr halbe Stunden lang vor seinem Bauer und sehe seinem Treiben zu.
Von der Hauptsache später, jetzt vermag ich darüber nicht zu sprechen. Die Deutschen setzen ihre Angriffe fort.
13. (26.) September.
Nur mit Mühe kann icti micti in Sasctienkas Schilderung wiedererkennen, aber ich glaube ihr, meiner Gerechten, wie dem Evangelium. Ein furchtbares Bildl Und ganz begreiflich ist es, dass ich ihr so fremd geworden war: bemerkte ich doch in der Anmassung meines persönlichen Grames ihre Tränen nicht, antwortete auf ihre liebkosenden Worte mit dem bösen Knurren eines Hofhundes, dem man die Knochen weggenommen hat. Und mein Schrecken, als ich meine Arbeit verloren, der törichte Stolz, der mir das Recht zu leben absprach . . . welch* unglaubliche Dummheit! Alle anderen können arbeitslos werden und um Mildtätigkeit bitten müssen, nur ich allein, dies Ausnahmgeschöpf, dieser vornehme Ilia Petrowitsch Demetjew, kann es nicht. Alle Menschen dürfen ihre Kinder verlieren, nur ich allein nicht, ich muss mich dagegen auflehnen, irgendjemand angreifen, mir selbst pharisäerisch an die Brust schlagen. Alle können schmerzliche Verluste erleiden, durch Feuersbrünste geschädigt, von Unglück aller Art heimgesucht werden, nur ich muss auf dieser Welt heilig und unantastbar auf einem Sockel stehen! Alle kämpfen, nehmen Qual und Sünde auf sich, nur ich allein sitze wie ein ausgedienter Lehrer, schreibe zur Nachtzeit Korrekturen, ergehe mich in Vorträgen, die
niemand anhört, teile Zensuren für das Betragen aus: Zwei minus, stelle Dich in die Ecke Deutschland! Und Ihr Dummköpfe alle, stellt Euch in die Ecke, solange ich, der Weise, hier auf dem Katheder stehe und mich brüste. Aber woher kann Saschenka dies alles verstanden haben? Meine Saschenkal
Sie sagt nirgendsher, es sei dies alles so klar gewesen; mag sein. Aber woher kam damals mqine Verblendung? Wahrscheinlich von dort, wo all' die müssigen Fragen herkommen. Mir ist ja jetzt alles klar, aber aus reine Gewohnheit frage ich weiter, setze Fragezeichen hin . . . zu dumm)
Ich kann die Seelenerleichterung, die ich nun empfinde, mit nichts vergleichen. Und die Hauptsache, ich fühle keinerlei Angst mehr was immer auch geschehen möge. Für mich ist nichts mehr furchtbar. Die Deutschen, — nun gut, die Deutschen, muss man fliehen — flieht man, muss man sterben — so stirbt man eben. Noch nie habe ich Petka und Jenka so geliebt, aber nicht einmal der Gedanke ihres Todes vermag mich mehr zu erschrecken . . . ich würde bitterlich um sie weinen, doch den eigenen Tod nicht mehr herbeirufen, mich nicht einmal nach ihm sehnen. Ueberhaupt der Tod — diese formelle Idiotie, wer liebt, lebt ewig, sagt Saschenka.
Gestern hat micti Finotschka den ganzen Abend «Alterchen» genannt, «mein Alterchen, mein Alterchen!» Saschenka begann sich ein wenig zu beleidigen und verlieh diesem Gefühl durch eine Bemerkung Ausdruck, ich aber war gar nicht gekränkt, sie scherzte ja doch nur. Trotzdem ging ich zum Spiegel, um mich zu betrachten . . weiss
Gott, sie hat recht. Nicht dass ich wirklich alt aussähe, scheine bloss älter als sechsundvierzig Jahre, es liegt irgendetwas in den Augen, im Lächeln, ja, und auch in den Tränen, die mir so häufig kommen. Ich werde nicht mehr lange leben, das ist eine Tatsache — und in diesem Gedanken ist eine ausser-gewöhnliche Kraft. Finotschka meint, das viele Herumlaufen in der Stadt hätte mich gestählt; möge sie nur lachen.
Wir freuen uns alle über die neue Wohnung, nur der Umzug war nicht angenehm; es ist schwer zu verstehen, was mit Inna Ivanowna vorgegangen ist, was sie so sehr betrübt haben mag. Mit einem Mal ist sie zusammengebrochen und liegt nun schon, das Gesicht zur Wand gekehrt, den zweiten Tag, zitternd vor Schwäche wie eine Sterbende. Als wir der Ahnungslosen damals ohne jegliche Vorbereitung mitteilten, dass ich meine Stelle verloren habe, war es erschreckend zu sehen, wie sie sich aufregte, erbleichte, zu beben begann.
Als die Möbel schon alle fortgebracht waren, weigerte sie sich ihr Zimmer zu verlassen, weinte, als wir sie an der Hand fortführten. Sie muss irgend eine besondere Vorstellung gehabt haben. Gestern Abend verlangte sie nach Saschenka und flüsterte ihr zu: «Rufe Paw-luscha zu mir;» natürlich erwiderte Saschenka, dass sie ihn sofort rufen würde. Zum Glück wiederholte die arme alte Frau ihre schreckliche Bitte nicht mehr. — Eben sah ich nach, sie schlafen alle, sie, Saschenka und die Kinder; solange Saschenka hier ist, schläft das Kindermädchen in Finotschkas Gastzimmer.