Den ganzen Tag hört man Geschichten über die Flüchtlinge aus Polen und Wolhynien, über ihre aussergewöhnlichen Fluchten auf allen Wegen. Sie werden, und das scheint den an-
deren eine Beruhigung zu sein, in Bücher eingetragen, gezählt, und man spricht jetzt von ihnen wie von einer Rasse, die schon lange bestanden hat und niemand recht gefallen will. Ich verstehe diese Beruhigung nicht, es schmerzt die Vorstellung, wie sie die Strassen dahin flohen und noch fliehen, das Knarren der überlasteten Fuhrwerke, das Weinen und Husten der frierenden Kinder, das Brüllen der hungrigen Haustiere. Und wie sie fremd, von einem Orte zum andern ziehen, hinter sich blickend, gleich Lots Weib, in Flammen und Rauch die brennenden Dörfer und Städte sehend. Die Pferde reichen nicht, und viele spannen, wie erzählt wird, Kühe, ja selbst starke Hunde vor die Wagen oder ziehen sie selbst, wie in den alten Zeiten, als die Menschen zum ersten Mal vertrieben worden waren . . . und seit jener Zeit werden sie immer wieder und wieder vertrieben. Es ist schwer, sich ein Bild davon zu machen, was auf diesen Strassen geschieht, wo eine solche Menge drängt, dass es eher dem Newsky an einem Feiertage gleichen muss, als einer öden, herbstlich kotigen Chaussee. Wird uns diese » unbekannte Macht noch lange vor sich herjagen?
Und heute noch eine traurige Nachricht: die Bulgaren haben die Serben überfallen . . . konnten wir dem nicht entgehen, dass Brüder
Brüder zerfleischen? Die ganze Seele erbebt einem, wenn man bedenkt, dass dies Volk vernichtet, dass diese arme Wiese von jenen Schnittern abgemäht wird, deren Nahen, Kommen auch uns schreckt. Und was macht es ihnen aus, auch diese zu morden, haben doch die Türken, wie die Zeitungen melden, 800,000 Armenier hingemetzelt. Was ist da zu sagen? Sie tun mir alle leid und jeden Augenblick wird das bekümmerte Herz von neuem Unglück heimgesucht. Und ich weiss nicht, soll ich Gott bitten, er möge die verräterischen Bulgaren strafen oder soll ich mich hier vor einem unbegreiflichen Geheimnis der Menschenseele beugen.
Gestern aber war ich nahe daran, inmitten der Tränen und des Mitleids in Flüche auszubrechen, konnte mich nur mit Mühe in der folgenden schlaflosen Nacht besänftigen. Mir war eine Zeitung in die Hand geraten, in der von den unglückseligen Armeniern die Rede war. Ich gebe die Worte eines Augenzeugen genau wieder, so wie sie dort standen, schwarz auf weiss.
«Das furchtbarste Bild bot sich dem Augenzeugen in Bitlis dar. Noch ehe er Bitlis erreicht hatte, sah er im Walde eine Gruppe erst kürzlich hingeschlachteter Männer und darunter drei Frauen — völlig nackt, an den Beinen aufgehängt. Bei einer derselben stand
ein etwa einjähriges Kind und reckte die Arme nacti der Mutter aus, diese, nocli lebend, das Gesicht mit Blut überströmt, streckte dem Kind die Hände entgegen, doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.»
Kann man denn einschlafen, ein solches Bild vor Augen? Natürlich konnte ich es nicht, die ganze Nacht über stockte mir der Atem, tobte das Blut in meinem Kopfe, als wäre ich selbst bei den Beinen aufgehängt und hinaufgezogen. Einen Augenblick glaubte ich zu ersticken. Aber seltsam, als ich dann weinen konnte, schwemmten die Tränen meinen Zorn, die Flüche und noch ein anderes Gefühl ganz fort. Nur Eines blieb. Ich spreche nicht von den «kürzlich hingeschlachteten Männern» . . . schon die Art und Weise von Menschen wie von Schafen zu sprechen, verrät das Schablonenhafte dieses Anblicks, die Gewöhnung an denselben. Wie viele gibt es dieser kürzlich «Hingeschlachteten» auf unserer heutigen Schlachtbank, aber die Frau und das Kindchen, die Frau und ihr Kindchen . . .
Sie lebte noch, den Kopf nach unten, konnte so noch eine halbe, eine ganze Stunde am Leben bleiben; wie musste das Blut durch ihr Gehirn jagen, welch schreckliche blutrote Lichter mussten vor ihren brennenden Augen tanzen! Wie atmete sie? Wie konnte ihr Herz noch schlagen? Und inmitten dieses
roten, glühenden Todes erkannte sie nocli die Gestalt itires hilfsbedürftigen Knäbleins, sah nur dieses mit ihrem gequälten Blick, mit übermenschlicher Kraft streckte sie nach ihm die blaugelaufenen Hände aus, wandte ihm das blaurote Gesicht zu. Ein anderer wäre vor diesem entstellten Gesicht erschrocken, aber das einjährige, unschuldige Kind streckte die Hände nach ihm aus, erkannte in ihm seine Mutter. «Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.» Entweder war die Entfernung zu gross, oder das dumme Knäblein verstand es nicht, die Hand hinauf zu reichen. Und was war ihr von Nöten? Nicht Leben und nicht Rettung, auf die sie nicht mehr rechnen konnte, nur eines; nur auf einen Äugenblick das Kinderhändchen zu halten, dessen Berührung ihrem Herzen Gewaltiges gewesen wäre. «Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.»
Und die ganze Nacht versuchte ich, wie in einem schweren, bösen Traum, selbst dem Ersticken nahe, diese zwei hoffnunglos ausgestreckten Hände zu vereinigen. Jetzt werden sie gleich zusammenkommen, gleich einander berühren, etwas Ewiges, Starkes, ein unveränderliches Leben bilden . . . nein, es geht nicht, irgend etwas, eine unüberwindliche Kraft reisst mich zurück. Schmerzenden Kopfes besann ich mich eine Minute (schade, dass ich
das Rauchen aufgegeben habe, es verlangte mich sehr danach), und dann begann ich von neuem mit dieser entsetzlichen Arbeit, die keinen Anfang und kein Ende hatte. Von neuem suchte ich die Hände zu vereinigen, wieder waren sie einander ganz nahe, und wieder riss eine unsichtbare Gewalt sie auseinander. Das Blut schoss mir zu Kopfe, ich glaubte vor Verzweiflung zu ersticken. Schliesslich schien mir etwas Ungeheuerliches zu drohen: die Hände, die ich vereinigen wollte, streckten sich nach mir aus, um mich zu erwürgen, die Finger umkrallten meine Kehle, es waren nicht mehr vier Hände, unzählige waren es, unzählige . . .
Finotschka hatte mein lautes Stöhnen vernommen und kam erschrocken herbeigelaufen; als sie erfuhr, was mir fehle, gab sie mir Baldrian zu trinken, aber schon der Anblick eines lebenden Menschen beruhigte mich. Kaum aber war sie aus dem Zimmer gegangen, so begann das ganze von neuem, wenn auch nicht in der gleichen furchtbaren Art. Sie wollten mich nicht mehr erwürgen, aber ich konnte die Hände, wie früher, nicht vereinigen und hielt über diesen Gegenstand eine leidenschaftliche Rede in unserem Kontor, selbst ein paar unendlich lange Arme ausstreckend . . .
Gegen Morgen schlief ich traumlos ein.
Heute quälen mich furchtbare Gedanken und eine unbezähmbare Aufregung. Ich sehe auf jedes Paar Hände, das irgendwie beschäftigt ist oder miissig aus dem Äermel heraushängt, und träume davon, sie zu vereinigen. Ich denke an Inna Ivanowna und die anderen Mütter; wie sie, die ihren Sohn beweinen, nicht verstehen können, dass auch er den Sohn einer anderen Mutter erschossen und umgekehrt, und dass sie alle weinen. Nein, sie verstehen es wahrscheinlich, denn es ist ja so einfach, doch hier scheint das Schwergewicht in etwas anderem zu liegen. Wer streckt und wem streckt er die Hand zur Vereinigung hin? Und wer hindert dies, hindert dies ewig und immer? «Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen!» — sagt der Äugenzeuge.
Mein Zorn ist erloschen, weh und traurig ist mir und wieder fliessen mir still die Tränen. Wen soll man verfluchen, wen verdammen, da wir doch alle so unglücklich sind. Ich sehe das allgemeine Leid, sehe die ausgestreckten Hände und weiss, dass ein grosses Licht alles erhellen wird, wenn sie einander berühren, die Mutter Erde und ihre Söhne — ich aber werde es nicht mehr sehen. Und wozu habe ich gedient? Als «Zelle» habe ich gelebt, als «Zelle» werde ich sterben und habe nur die eine Bitte an mein Schicksal, dass mein Tod und das
Leid, das ich in Demut ergeben auf mich nehme, nicht umsonst sei.
Aber ich kann in dieser völligen Hoffnungslosigkeit keine Ruhe finden und so strecke ich irgend jemandem die Hand hin: Komm, gib mir die Deine. Ich habe Dich so lieb. Lieber, Du mein Lieber . . .