«Erlaujbe,» sage ich, «habe ich denn behauptet, dass ich sie liebe? Ich kann einfach als humaner und kultivierter Mensch keinen hassen, möge er auch wer immer sein.»
Sie lacht.
«Schöne Humanität! Wäre Pawluscha nicht mein Bruder, sondern der Deine, würdest Du anders sprechen. Und ich frage mich nur, wozu Mama hierher kommt, wo man ihren Sohn so glühend liebt.»
Und im weiteren Gespräch warf sie mir die gröbsten Beleidigungen hin: dass ich ein Feig-
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ling, ein Verräter und glücklich sei, dass ich meines Alters wegen nicht in den Krieg zu gehen brauche. Und dies nach all unseren Gesprächen über den Krieg, in denen sie ebenso geurteilt hatte wie ich, dies, nachdem sie mir vor einem Tag selbst geraten hat, meines Magens wegen zum Arzt zu gehen . . . Eine schöne Sache, der Krieg]
Es versteht sich von selbst, dass ich kein weiteres Wort mehr zu ihr sprach, und ich werde, um sie zu strafen, zwei Tage lang schweigen; wiewohl dies offenbar nichts ändern wird.
Ueberhaupt beginnt dieser Krieg stark auf die Nerven zu wirken, und es scheint unmöglich, ihn auch nur für einen Tag aus dem Be-wusstsein zu verbannen. Ich habe versucht, keine Zeitungen zu lesen, aber es geht nicht; ausserdem rufen die Zeitungsverkäufer alle Nachrichten aus, und im Kontor sitzen sie unablässig über der Landkarte, es ist geradezu entsetzlich. Hätte ich die Mittel dazu, ich führe irgendwo weit weg, aber der Ort, den ich suche, existiert wohl nicht auf der Welt. Und hier, inmitten des allgemeinen Wahnsinns, gibt es keine Möglichkeit, sich zu bewahren, seine Seele vor der ansteckenden Seuche zu retten. Ich wiederhole, dass ich diesen Krieg nicht wollte, ihn mit seinem ganzen «höheren Sinn» verurteile und verfluche. Warum bin ich trotz-
dem verpflichtet, jeden Tag den Gott gibt, von ihm zu wissen, über ihn und seine unmenschlichen Greuel zu lesen?
Ich bin kein gefühlloser Taugenichts, sondern, trotz aller Bescheidenheit sei es gesagt, ein anständiger, beherrschter, empfindsamer Mensch und kann nicht gleichgültig bleiben, ja all diese unerträgliche Pein verursacht mir recht schlimme Leiden.
Genügt es nicht, dass sie Tausende, Hunderttausende töten und dieses Morden als etwas Besonderes hinstellen, müssen sie überdies durch Lärm, Gebrüll und Feuer den Tod noch erschreckender für den Menschen machen, ihn zum Wahnsinn treiben, seine ganze Seele durch ihre schwindelhafte Gaukelei und das Unerwartete zerfetzen?
Was nützt es mir, auf dem Potstamskoi-Platze zu wohnen und noch nie gesehen zu haben, wie man eine Kanone abfeuert, — wenn ich dies alles trotzdem durch die Zeitungen, die Illustrationen und die Gespräche kennen lerne?
Und weshalb muss ich leiden, für wen muss dies so sein? Beurteilt mich, wie ihr wollt, aber hätte ich die nötige Kraft — mich zu verzaubern, zu besprechen, zu hypnotisieren, ich täte CS ohne Zaudern und blickte kein einziges Mal nach der Seite, wo der Krieg tobt. Wem nützt es, wenn ich, der den Krieg nicht
mitmacht, ebenfalls leide, Schlaf, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit einbüsse?
Und wie kränkend, wie schmerzlich ist es, dass Sascha dies nicht versteht! Wenn sie überlegen wollte, so müsste sie doch begreifen, dass meine Gesundheit uns allen nötig ist; begänne auch ich die Deutschen und die andern Gegner zu hassen, jeden Augenblick um Pawluscha zu zittern, was würde aus mir werden? Nun ist sie wohl mit dem Gefühl erlittener Kränkung und Ungerechtigkeit eingeschlummert und ich, ich schlafe nicht und quäle mich in meiner unfreiwilligen Einsamkeit! Ach Sascha, Sascha! Glaubst Du, es ist leicht für mich? Man nennt sich einen Menschen und beneidet doch jeden Hund, der im Korridor liegt und nicht weiss, was die Herren Deutschen den Herren Russen antun und umgekehrt.
Und es gibt keinen dunklen Dachboden, keine Rumpelkammer, in der ich mich verstecken könnte, wie ich mich als Kind vor dem Stiefvater versteckt habe. Wie könntest du deinem eigenen Geist entfliehen? Ich kann nur froh sein, dass meine Kindheit vorbei ist, dass ich wenigstens im Schlaf in ein schwarzes, erholungbringendes Vergessen versinke. Aber schon im Augenblick des Erwachens möchte ich vor unerträglicher Erregung die Wände hinaufkriechen, den ganzen Körper
von einer nagenden Pein durchschauert. Ja, und kaum beginne ich schläfrig zu werden, so horche ich doch wieder zu Sascha hinüber, die unruhig schläft, sich im Bette wälzt, stöhnt, die Arme bewegt. Schliesslich, sie ist eine Frau und tut mir leid.
Ueberhaupt war heute ein besonders unangenehmer Tag. Im Kontor hielt der Pole Swoliansky eine glühende Rede über das Eingreifen der Türkei in den Krieg und äusserte eine törichte Freude, weil wir die Meerengen und Par-Grad einnehmen würden. Ich sah ihn schweigend an, lächelte ein wenig und dachte: Du Dummkopf, Du! Man muss sich freuen, dass Petrograd noch unser ist, und Du machst Dir schon Sorgen um Par-Grad. Und ich stelle mir vor, dass in Konstantinopel irgend ein Türke sitzt, Ibrahim Bey, ähnlich unserem Ilia Petrowitsch, und sich gar nicht darauf freut, dass morgen sein dicker Bauch unseren Weisen als Zielscheibe dienen soll. Aber versuch einmal, so etwas auszusprechen!
In unserem Haus wird auf Kosten der Mieter ein kleines Lazarett für fünfzehn Betten errichtet, ich habe natürlich auch mein Scherf-lein beigetragen.
Ach Sascha, Du meine Saschenkal
Petrograd, den 16. (29.) Oktober.
Die Türkei hat die Feindseligkeiten gegen die russische Armee eröffnet.
17. (30.) Oktober.
Wie es kam, kann ich mir noch nicht erklären, aber ich mischte mich gestern unter die Manifestanten, die die Kriegserklärung der Türkei zusammengerottet hatte. Flaggen und Bilder wurden herumgetragen, drei Stunden lang bewegte ich mich mit ihnen durch alle Strassen, sang, schrie Hurrah, zeichnete mich überhaupt aus. Held, der ich bin) Ich fürchte nur, dass dieser Held sich erkältet hat, heute schmerzen mich Hals und Nacken, es war kalt ohne Mütze. Zu Hause traf ich eine ganze Versammlung an: Nikolai Jewgenewitsch mit seiner Frau und dem Advokaten Kindjakow, von welchem sie unzertrennlich sind, Saschenkas Freundin, die Hebamme Fimotschka und noch einige, lauter verheiratete Leute.
Zur allgemeinen Freude brachte ich vier Flaschen Wein, den mir Pan Swoliansky noch im August überlassen hatte, und wir gerieten in glänzende Stimmung; natürlich nicht durch den Wein, sondern die Ereignisse hatten alle ungewöhnlich erregt. Wir stritten, schrien durcheinander, lachten über die Türken, später sangen wir, auf dem Klavier von Kindjakow begleitet, Hymnen. Ich kam erst gegen drei Uhr zur Ruhe, da ich noch Fimotschka nach Hause begleiten musste. Es ist gut, dass ich
mich heute tagsüber ein wenig niederlegen kann; ich wäre sonst ganz erschöpft.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich an einer Volksdemonstration teilgenommen, man muss auch das kennen. Ich empfand ein eigentümliches und sonderbares Gefühl, das ewig in meinem Gedächtnis haften wird. Und wie lächerlich auch immer dies erfahrenen Menschen vorkommen wird, das Interessanteste für mich war, dass wir nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf dem Fahrv/eg gingen, wo doch sonst keiner geht, und dass nicht nur die Droschken, sondern sogar die Trambahnen und Automobile uns den Weg frei Hessen. Das Ganze, die Flaggen, unser lautes und selbst-bewusstes Singen, der Umstand, dass wir Polizei und Militär übertrumpften, verliehen uns grosse Wichtigkeit und erweckten den Eindruck, als ob wir ebenfalls Kämpfer, eine im Innern des Landes verbliebene Armee wären. Unter den Manifestanten befanden sich auch Soldaten und einer derselben, ein alter ausgedienter Admiral, versuchte uns beizubringen, im Schritt zu gehen; manchmal gelang ihm dies, und dann ertönten unsere Lieder noch kühner und wir fühlten uns den in den Kampf ziehenden Truppen noch ähnlicher. Und wie sangen wir schön! Welch unerschütterliche Zuversicht auf den Sieg, unsere Unbesiegbarkeit und Kraft empfanden wir!