Aber dadurch, dass wir auf diese ungewohnte Weise auf dem Fahrweg umherzogen und die Stadt sich mir von einer ganz anderen Seite zeigte, bekam für mich, wie am ersten Tage der Kriegserklärung, alles eine andere Einstellung, und zusammen mit einem grossen Entzücken empfand ich aufs neue die aussergewöhnliche, mit nichts vergleichbare Furcht. Die ferne Türkei und der Krieg selbst kamen mir dermassen nahe, dass ich sie buchstäblich mit der Hand hätte greifen können, und durch diese Annäherung wurde alles Sein so unhaltbar, so hoffnungslos, dass man jeden Augenblick darauf vorbereitet war, es in die Unterwelt versinken zu sehen. Und wieder waren es nicht die Türken, die mir furchtbar erschienen, wir verachteten sie aufs tiefste, bedauerten sogar ihre Dummheit; aber etwas anderes, das ich nicht recht erklären kann, flösste mir Angst ein. Vielleicht das Gefühlt der Unhaltbarkeit. Heute morgen, zu meiner Arbeit gehend, bemerkte ich, wie auf Brettern ein Bäumchen irgendwoher transportiert wurde; es sollte wohl eingepflanzt werden. Die mit Erde bedeckten Wurzeln staken in einem kleinen Korb; das Bäumchen •schwankte hin und her und war wahrscheinlich neugierig, wohin man es bringe, empfand gleich uns das Gefühl der Unhaltbarkeit. Wieder in die Erde gepflanzt, wird seine Lage
eine natürliche sein, es wird sich stärken und wachsen, aber so zwischen diesen zwei Erden muss es sich sehr fremd fühlen.
Ich vermag nicht mit Bestimmheit und Ueberzeugung zu sagen, weshalb ich so laut «Hurrah» schrie — aus Entzücken oder — aus ÄngstI Ich schrie gewissenhaft, aus voller Kehle, aber bei mir selbst dachte ich: «Mein Gott, mein Gott, wo ist das Ende?» Ich betrachtete die Häuser, die Leute, schaute zum Himmel hinauf, von dem ein frostiger Regen niederzurieseln begann, alles war so grau, so düster . . . und es war unmöglich zu begreifen, was in der Welt geschah. Diesen Himmel und diese Häuser kannte ich noch aus meiner Kindheit; aber was war nun mit ihnen vorgefallen? Schlieslich kam ich so weit, dass ich mir selbst fremd und unbekannt erschien, zum Spiegel ging, um zu sehen, wie ich den Mund aufmache und schreie, was ich für Züge habe.
Heute empfinde ich weder Entzücken noch Furcht, ich reisse den Mund weder zum Singen noch zum Schreien auf, aber in meiner Seele schmerzt eine zehrende Qual, eine fast krankhafte Melancholie. Mein Gott, wem nützt all dies? Natürlich, als Russe, der sein Vaterland liebt, kann ich nicht umhin, mich darüber zu freuen, dass die Meerengen und Part-Grad unser sein werden, aber hier, im Grunde
meines Herzens, vermag ich mich eines gewissen Zweifels nicht zu erwehren: wir haben doch auch ohne Part-Orad gelebt und uns nicht zu beklagen gehabt. Dass sie aber meinen Türken Ibrahim Bey umbringen werden, darüber besteht kein Zweifel und ist es mir von ganzem tierzen um ihn leid.
Warum deucht es mir, dass dieser dicke Türke mir ähnelt, der ich selbst gar nicht dick bin, und weshalb kränkt es mich, dass man ihn, der niemanden beunruhigt, beunruhigen wird? Jetzt freilich wird er voller Wut sein, das türkische Volk ist sehr grausam, aber schliesslich kann man auch den zahmsten Hund, wenn man ihn reizt, so zur Raserei bringen, dass er auf den eigenen Herrn losfährt. Nein, was immer sie in unserem Kontor auch singen mögen, es missfällt mir immer mehr und mehr, dass Krieg ist.
Heute-beging ich eine Dummheit und versuchte meiner Lidotschka zu erklären, was der Krieg sei und was die Türken seien, ich zeigte es ihr sogar auf der Landkarle. Natürlich verstand sie nichts davon. Was sie am meisten interessierte, war das viele Wasser; dann aber rief sie mich von der Zeitung weg und verlangte, ich solle zusehen, wie gut sie springen könne. Spring, Kind Gottes, spring nur und freue Dich, dass Du kein belgisches oder polnisches kleines Mädchen bist, das in den Flam-
men zugrunde gehen muss oder durch eine Bombe aus den Wolken getötet wird.
Es ist schmählich zu bedenken, dass man solche Kinder tötet.
20. Oktober (2. November).
In der Stadt geht das schreckliche Gerücht um, dass die Deutschen Warschau eingenom-mne haben, im Kontor sind alle ganz verzagt, und es tut einem ordentlich weh, Pan Swo^ liansky anzusehen.
Auch zu Hause gibt es grosse Unannehmlichkeiten. Erstens ist Mütterchen Inna Iva-nowna ganz zu uns gezogen; bei Nikolai Jew-genewitsch gab es einen grossen Skandal wegen seiner Frau und des Advokaten Kin-diakow, er lässt sich von ihr scheiden. Durch Saschenka erfuhr ich, dass Nikolai mit dem Revolver auf Kindiakow schoss, ihn aber zum Glück nicht traf, und die Sache sich vertuschen lässt. Es ist noch gut, dass Mütterchen jenen Abend bei uns zubrachte und sich zum Uebernachten bereden Hess, so dass sie von der ganzen skandalösen Geschichte nichts sah. Ich begreife nicht, wie man sich in dieser Zeit mit Liebeshändeln und Eifersucht befassen kann, wo ja ohnehin schon in der Seele kein Fleckchen zu finden ist, das nicht wund wäre. Und dass ein intelligenter Mensch über einen anderen herfallen kann) .... Empörend,
schändlich! Nikolai Jewgenewitsch ist in den Kaukasus gereist, seine Frau und Kindiakow zittern vor ihm; sie will nun Schauspielerin werden oder so etwas ähnliches.
Dazu seit drei Wochen keine Nachrichten von Pawluscha, man kann sich vorstellen, was für eine Shmmung in unserem Hause herrscht. Mir erscheint diese Frist (angesichts der Langsamkeit und der Unregelmässigkeit der Feldpost) nicht sehr lang, aber Inna Ivanowna kann oder will dies nicht einsehen und macht in ihrer Niedergeschlagenheit einen schrecklichen Eindruck. Ausserdem geniert sie sich, fast könnte ich sagen, sie fürchtet sich vor mir, glaubt in ihrer wunderlichen Greiseneitelkeit kein Recht zu haben, bei uns zu wohnen, und wenn ich aus ganzem Herzen versuche, sie über Pawluschas Schicksal zu beruhigen, ihr die Unregelmässigkeit der Feldpost zu erklären, beeilt sie sich mir beizupflichten, und sieht mich dabei so erschrocken an, als wollte ich ihr m verblümten Worten klar machen, dass sie unser Haus verlassen solle. Einmal konnte ich mich doch nicht enthalten, ihr zu sagen:
«Schämen Sie sich denn nicht, Mütterchen? In was für eine Lage versetzen Sie mich? Ich will Ihnen doch nur Gutes erweisen und Sie sehen mich an, als wäre ich ein Deutscher aus Berlin.»
Dadurch habe ich sie noch mehr erschreckt ... es ist zu dumm. Wenn ich nicht da bin, weint sie stundenlang, so wird mir erzählt, in meiner Gegenwart lächelt sie, scherzt sogar, wenn man auch an der verwirrten Art, in der sie Worte und Begriffe verwechselt, merkt, wie ihr zumute ist. Eben brachte sie mir zum Beispiel selbst ein Glas Kaffee und vergass den Zucker. Es ist so quälend, Dienste von einer alten Frau anzunehmen die sich nur schwer auf ihren müden Füssen fortbewegt.
Am quälendsten aber ist, mich bis in die tiefste Seele hinein peinigend, meine gute Sa-schenka, mit der ich einfach gar nichts mehr anzufangen weiss. Dies ist ein Thema, über das ich nur hier, in meinem Tagebuch sprechen kann. Wie ich schon schrieb, ist in unserem Hause auf Kosten der Mieter ein Lazarett errichtet worden ... ich bedaure ja nicht die Auslagen, die es auch mir verursacht hat, aber seitdem der erste Zug Verwundeter eingetroffen ist, zieht es Sascha mit ihrem ganzen weichen Frauenherzen zum Lazarett hin. Tag und Nacht ist sie dort, man betrachtet sie als barmherzige Schwester, richtiger als Krankenpflegerin, obwohl sie nie einen Pflegerinnenkurs besucht hat. Es scheint dort keine Schwester zu geben.
Es ist ganz unmöglich, etwas gegen solch eine Güte, solch eine wahrhaft christ-
liehe Barmherzigkeit einzuwenden; alle Bekannten loben Saschenka, die Soldaten lieben sie, und sie selbst findet Befriedigung in ihrer Tätigkeit. Was kann ich anders als schweigen und zustimmen. Denn spräche ich, wie immer ich auch ein Recht dazu hätte, man glaubte mir nicht, verurteilte, kränkte mich mit schweren Verdächtigungen, stellte mich als einen Egoisten, als einen dünkelhaften Beamten hin. Ein Mensch, der seiner Erau verbietet, sich im Lazarett abzuplagenl Ja, aber was soll das bedeuten, wenn es der Gesellschaft behagt, dass eine Erau sich nicht mehr um ihre Ea-milie kümmert, sondern Wunden heilt, Schäden bessert, die diese Gesellschaft selbst verschuldet hat.