Ausserdem, in aller Strenge meines Gewissens sprechend, kann ich nicht anders als bemerken, dass der Grund, der Saschenka ins Lazarett treibt, ein unmoralischer, böser und zu verurteilender isL Es ist unmöglich, sich ganz der Barmherzigkeit hinzugeben und dabei die einem am nächsten stehenden Leute zu vernachlässigen; unmöglich, die einen zu bedauern und die anderen, nicht minder Hilflosen und Unschuldigen zu vergessen.
Sogar hier ist es mir peinlich darüber zu sprechen, aber mein Magen ist nicht recht in Ordnung, und um für die Eamilie arbeiten zu können, muss ich, obwohl ich kein Kranker im
eigentlichen Sinne des Wortes bin, normale, gut gekoctite Natirung bekommen; unsere Anissia aber, sich selbst überlassen, gibt mir so schlecht zu essen, dass ich bereits zweimal eine Art Cholera und starke Herzbeklemmungen hatte. Freilich, was bedeutet die Magenverstimmung irgend eines llia Petrowitsch gegen den ungeheueren, entsetzlichen Krieg, gegen die Leiden und Qualen der Verwundeten, der Beraubten, der Verwaisten? . . . Man sollte sich schämen, überhaupt darüber zu sprechen; sogar der Arzt vernachlässigt jetzt derlei Krankheiten. Wenn man aber bedenkt, dass llia Petrowitsch ein Mensch ist wie alle anderen, dass er sein Leben lang ehrlich gearbeitet hat, nicht nur für sich selbst, auch für andere und auch jetzt noch fortfährt, die Familie und die kleinen Kinder zu erhalten, so wage ich zu behaupten, dass man auch seinem schwachen Magen Aufmerksamkeit schenken und Hilfe bringen muss.
Angenommen, dass ich selbst es mir mit meinem verachteten Magen einrichten kann, eben ein wenig hungre und dergleichen, — aber die Kinder? Es sind ihrer drei, Lidotschka, die Aelteste, ist noch nicht ganz sieben Jahre alt (ich habe spät geheiratet) und unser Kindermädchen ist ein geschwätziges, ungebildetes, unvernünftiges Geschöpf, das imstande ist, mit den besten Absichten die Kinder durch
falsche Ernährung zu vergiften oder einer Erkältung auszusetzen, wie es sich unlängst mit Petia ereignete. Er halte nasse Fiisse bekommen und lag darauf drei Tage lang mit Fieber zu Bett, auch dem jüngsten, Jenia, geht es nicht gut, er will nicht essen und ist ganz blass geworden; aber was kann ich, der ich nichts von Kindern verstehe, mit ihnen machen? Als ich Sascha von den Kindern und deren wirklich kläglichen Lage sprach, antwortete sie kurz: «Sag es dem Mütterchen, sie wird schon alles in Ordnung bringen.» Dem Mütterchen! Dieser Inna Ivanowna, die vom Winde hin- und hergeweht wird wie ein Flaumfederchen, die im Schlafen und Wachen nur ihren Pawluscha im Schützengraben sieht. Ich bestreite ja nicht, dass es eine Zeit gab, da Mütterchen im Hause arbeitete, aber wo ist die hin? . . . Und ist es ausserdem nicht gewissenlos, der schwachen alten Frau eine Last aufzubürden, die ihre Kräfte übersteigt. Es ist qualvoll, ihren greisenhaften, fruchtlosen Bemühungen zuzusehen. Neulich wollten die Kinder mit ihr spielen, oder fing sie selbst mit ihnen zu scherzen an; das Ende war, dass die Kleinen sie in aller Unschuld, wie junge Katzen spielend, auf den Fussboden warfen und fast erwürgten. Als ich sie aus dieser Lage befreite, weinte sie und ich sah voll Aerger auf ihre zerzausten, ungepflegten Quälgeister und schüttelte den Kopf.
All dies ist nicht gut, gar nicht gut. Sa-schenka handelt nicht recht, nicht nach ihrem Gewissen, nicht nach der Wahrheit. Nicht wir wollten den Krieg und haben ihn angestiftet und er hat kein Recht, dieser verfluchte Krieg, zu kommen wie ein Dieb in der Nacht, unser Heim zu zerstören und öde zu machen. Genügend gross sind die Leiden und Opfer, die wir mit Ergebenheit für ihn ertragen, wir, die wir schuldlos sind und es ist sinnlos, sich noch unter seine Füsse zu werfen, wie sich die Inder unter den Karren ihres bösen Gottes jugger-naut werfen. Ich erkenne keine bösen Götter, anerkenne den Krieg nicht, und je mehr man mich von dem «hohen Sinn» desselben überzeugen will, desto weniger Sinn finde ich in meiner Umgebung, sogar in meinem eigenen Heim. Oder hat es etwa einen Sinn, dass mein goldiges Kindchen, meine sanfte Lidotschka schon auf ihrem Kindergesichtchen Spuren der Trauer zeigt, es schmerzt mich der Anblick, wie ihre kleinen, schwachen, ungewaschenen Händchen in der Wirtschaft zugreifen, wie sie Gläser reinigt, Jenia zu waschen versucht und braucht doch selbst noch Pflege und Wartung.
Nicht gut ist es, nicht gut! Dabei wird das Leben mit jeder Stunde teurer, an Theater und Spazierfahrten ist nicht mehr zu denken, sogar mit den Tramfahrten muss man sparen, meist
zu Fuss gehen; jetzt ist es schon kein Verwand mehr, dass ich noch stets Arbeit nach Hause mitnehme und froh bin, eine solche zu bekommen. Das Klavier haben wir zurückgegeben. Verfluchter Krieg, der eben erst begonnen hat, von dem wir hier nur einen Vorgeschmack haben, und was erst dort geschieht, was die Menschen dort machen, kann man sich nicht ohne Entsetzen vorstellen.
Ich will gar nicht von den ungebildeten Klassen sprechen, aber von den Professoren, den Lehrern, Advokaten und anderen hochgebildeten Leuten, die sich bis auf den Tod bekämpfen, wie wilde Tiere übereinander herfallen, alles Menschliche zurückgelassen und verloren haben. Welchen Wert wird nach all dem die Wissenschaft und selbst die Religion haben? Früher blickte man zu so einem Professor auf und dachte: «Da ist ein Mensch, der nie Verrat üben wird, der feststeht wie eine Steinmauer, der nicht tötet, nicht stiehlt, keinen kränkt, weil er für alles Verständnis hat.» Heute aber sind diese Leute ebenso entsetzlich wie alle anderen, man kann sich nicht auf sie verlassen, die ganze Seele zittert wie ein Hammelschwanz, wie dies eine alte russische Redensart besagt.
Ich protestiere aufs energischste gegen die Behauptung, dass wir alle an diesem Kriege mitschuldig seien, ich wie alle andern.
Ihrer Meinung nach halte ich mein Lebiag nicht essen und trinken dürfen, nur in den Strassen herumlaufen: «Nieder mit dem Krieg» Schrein und den Soldaten die Waffen weg-reissen müssen; es wäre nur interessant zu wissen, wer mir, ausser den Polizeileuten, zu-gehört hätte. Und wo sässe ich jetzt: im Ge" fängnis oder im Narrenhaus? Nein, ich leugne jede Schuld meinerseits, ich leide vergebens und ohne Sinn und Zweck.
Eine kleine Neuigkeit, Andrei Wassilje-witsch, mein zukünftiger Leser, erhielt mit einem Mal zwei Georgskreuze. Saschenka ist aus Freundschaft für Andrei Wassiljewitsch äusserst stolz über diese Auszeichnungen und ich wagte nur zu fragen: «Sind Sie selbst sehr zufrieden, Andrei Wassiljewitsch?»
2. (15.) November.
Ich muss mir erlauben, ganz aufrichtig zu sprechen.
Seit einiger Zeit sind nie Zigaretten da, so viel ich auch kaufen mag, nun raucht ausser mir niemand im Hause, folglich muss sie Sascha ins Lazarett zu den Verwundeten bringen. Ich kann sie doch nicht in meinem Tisch vor ihr verschliessen wie vor einem Dieb! Heute versuchte ich ihr einen Wink zu geben und erhielt die Antwort:
«Du brauchst selbst nicht zu rauchen, ich werde sie den Verwundeten bringen.»
Und sie sah mich dabei so selisam an, nicht Liebe, nein Hass, wie gegen einen Feind, blickte aus ihren lieben Augen. Es wurde mir so traurig und kalt, als sässe ich in einem wirklichen Schützengraben unter strömendem Regen und von drüben zielten die verdammten Deutschen auf mich. Natürlich werde ich morgen zweitausend Zigaretten kaufen und auf den verschiedenen Tischen liegen lassen, sie soll nicht glauben, dass ich geizig sei..., aber wie kann sie nicht begreifen, dass es sich hier wahrlich nicht um Geiz handelt? O, Sa-schenka, Saschenkal
6. (19.) November.
Ich gehe oft ins Lazarett, das jetzt von der Stadt übernommen ist und zwei Stockwerke umfasst. Mit fruchtlosem Herzleid sieht man all die Verwundeten, ohne Arme, ohne Beine, erblindet. Ein entsetzlicher Anblick, so dass man noch ein paar Stunden nachher die Zähne zusammenbeissen muss, besonders wenn «Frische», wie die Schwester sie nennt, angekommen sind. Und nicht hinzugehen, sie nicht anzusehen, wird als Gemeinheit aufgefasst und schadet dir in der öffentlichen Meinung.