Einer der Verwundeten, ein älterer Mann aus dem Westen des Reiches, hat mich durch seine Erzählung tief erschüttert. Nach seinen Worten hatte er sich, als er einberufen wurde, fest vorgenommen, keinen Menschen zu töten
und als er sich während eines Bajonettangriffes auf die deutschen Gräben stürzte, warf er, um gegen jede Versuchung gefeit zu sein, seine Waffen weg. So weit sehr schön. Als sie aber jenen verhängnisvollen Weg zurückweichen mussten, überwältigte ihn eine derartige Wut und Raserei, dass er — buchstäblich — seine Zähne in die Kehle eines Deutschen einschlug und ihm die Gurgel durchbiss. Grauenhaftl Noch schrecklicher aber ist, dass er jetzt, wenn ihn nachts die Fieberphantasien packen, wütend die Zähne in das Kopfkissen gräbt, im Wahn, dies sei der Deutsche; und er beisst und weint, beisst und weint.
Mein Gott, ist mit mir nicht auch etwas ähnliches vorgegangen? Als ich neulich in der Nacht über den Krieg und die Deutschen, die ihn angefangen haben, nachdachte, geriet ich in eine solche Verfassung, dass ich wahrhaftig einen Menschen hätte anfallen und beis-sen können. Saschenka verbrachte die Nacht im Lazarett und mir begann vor mir selbst zu grauen, vor Saschas leerem Bett, vor Mütterchen Ivanowna, die mehr einer Toten als einer Lebenden gleicht, vor all der Oede und Zerstörung; ich ertrug es nicht länger, kleidete mich an, dankbar, dass das Lazarett im selben Hause ist und ging zu Saschenka.
Wie sehr sich auch Sascha über mein nächtliches Erscheinen verwundern mochte, bat sie
mich nur, ruhig zu sein, brachte mir sogar ein Glas Tee und lächelte mich an. Ringsum war tiefe Stille, das Lämpchen flackerte und man vernahm bloss, wie eine schwache Stimme: «Schwester, Schwester!» rief. Dann überkam der Fieberwahn jenen Verwundeten, der den Deutschen totgebissen hatte; er murmelte irgend etwas; sein ganzer Kopf war mit Verbänden umhüllt, die Finger fassten die Bettdecke, pressten sie zusammen — «er erwürgt den Feind» — flüsterte Saschenka. Sie gab ihm zu trinken, nach einiger Zeit beruhigte er sich, faltete die Hände wie ein Kind und schlief ein.
Ich blieb bis zum Morgengrauen dort und zu Hause angelangt, konnte ich lange nicht einschlafen, weinte vor Mitleid. Wenn man dieses verbundenen Kopfes gedachte, dieser bleichen Hände . . . wie hart ist dies alles.
Ist es denn möglich, dass Saschenka recht hat und ich aus Geiz nicht von meinen Zigaretten geben will? Mein Gott, welche Gemeinheit! Und heute Nacht, als ich auf den Verwundeten sah, wäre ich doch auf den Knien vor ihm gelegen, wenn er von mir Zigaretten gebeten, wenn dieses arme gequälte Geschöpf zu rauchen verlangt hätte! Der Mensch hat ein kurzes Gedächtnis.
4. (17.) Dezember.
Von Pawluscha kamen mit einem Mal vier Briefe an, er lebt, ist gesund. Ist wieder in Preussen. Natürlich sind Mlitterctien, Sascha und ich voll Freude und Entzücken, aber ich muss doch weiter denken, wozu wäre ich sonst ein überlegender Mensch. In der Zeit, seit sein letzter Brief abging, kann Pawluscha doch schon hundert Mal verwundet oder getötet worden sein, wir wollen das nur nicht zugeben, freuen uns so über die Briefe, als wäre dieses weiche Papier mit den schwachen Bleistiftzügen Pawluscha selbst.
Unter anderem schreibt er:
«Was soll ich Dir noch sagen, liebe Sa-schenka? Alles ist hier ausserordentlich interessant. In der schneeigen Dämmerung blickst Du auf eine grosse Masse sich bewegender Menschen und denkst . . . Schnee . . . Felder . . . Deutschland . . . das grosse Erlebnis, der grosse Krieg, da sind sie, vor Dir und Du bist mitten darin. Ein Offizier kommt vom Posten im schweren Pelz, mit Filzstiefeln, die Kapuze auf dem Kopf, ganz mit Schnee bedeckt, der langsam schmelzend von ihm herabrieselt. Du siehst zu, wie er sich auskleidet, mit Tee erwärmt und denkst: das ist er, der grosse Krieg, das ist sie, die grosse russische Armee! Und im geringsten, allerunbedeutend-
stcn Detail unseres Feldzuges fühlst Du die Grösse des Geschehens. Man muss zugeben, dass allüberall an unserer Front die Operationen ein langsameres Tempo einzuschlagen scheinen. Der Schnee, die Kälte erschweren alles, besonders wirken sie auf die Menschen. Vermummt und eingehüllt gegen die Kälte, kann man sich nur mühsam und langsam bewegen. Und die schwere, die ganz schwere Zeit beginnt erst. So sitze ich zum Beispiel hier mit dem Offizier, trinke Tee aus einem Glas, das sogar eine Untertasse hat, plötzlich läutet das Telephon und .... alles ist mit einem Schlag verändert, wie im Traum. Die Batterie muss Werste weit zur Seite oder nach vorne geführt werden, man muss sich in die erstarrte, eisige Erde eingraben, für die Nacht eine kalte Erdhütte aufbauen, — o, wie kalt ist es jetzt in den Schützengräben! — und dort in der Feuchtigkeit mit hungrigem Magen zu schlafen versuchen. Und das ist keine Erfindung, keine Phantasie, sondern ein fast täglich sich ereignender Wechsel der Dekoration. Nichts ist sicher, nicht für eine Stunde! Uebrigens, weisst Du,Saschenka, wie von Blut bedeckter Schnee aussieht? Genau wie eine Wassermelone . . . seltsam!»
Im anderen Brief schreibt er, wie er auf Posten in der Nacht sich mit feuchtem Stroh bedeckte, um sich warm zu halten, wie ihn
dann am Morgen der Frost überraschte und er sich mit seinem Stroh von der Erde losreis-sen musste. Armer Pawluscha, und wir lesen den Brief und freuen uns.
18. (31.) Dezember.
Das ist ein Schneegestöber heute! Schneeberge bedecken alle Gesimse, haben die Mauern fahl bemalt, die Häuser sehen aus weissen Äugen wie erfrorene Fische, es erweckt den Eindruck, als stünden diese Häuser gar nicht in einer Stadt, sondern in geschlossener Reihe auf einem öden, verschneiten Feld. Ich ging an der Isaakskirche vorbei, deren Stufen und Säulen im Schnee vergraben sind, und diese Granitsäulen muteten so kalt an, dass man es möglichst unterliess, sie anzusehen. Ganz vermummte Leutchen eilen auf den Strassen hin und her, gegen den Wind, mit dem Wind, die Mehrzahl jedoch sitzt zu Hause. Und plötzlich kam mir der Gedanke, wie es wäre, wenn ich überhaupt kein Heim hätte und für immer und immer auf der Strasse bleiben müsste. Man könnte den Verstand verlieren. Und wie mag es jetzt dort sein?
Ich schreibe jetzt nie in meinem Tagebuch. Ich bin so überhäuft mit wichtiger Arbeit, dass ich nicht Zeit habe aufzuatmen. Mein Befinden lässt zu wünschen übrig, eine Müdigkeit und Schläfrigkeit plagt mich, das Herz ist mir bleischwer, ich kann mich im Bett kaum unter
zwei schweren Decken erwärmen. Es ist noch gut, dass die Wohnung warm ist.
Nun steht bereits Weihnachten vor der Türe und wo ist das Ende des Krieges? An Stelle der sonst aut den Plätzen verkauften Weihnachtsbäume, marschieren und exerzieren Soldaten, wo immer man hingehen mag, überall sieht man welche. Sie scheinen ganz lustig zu sein und aus irgend einem Grunde zieht es mich zu ihnen hin. Auf dem Schlossplatz sah ich unlängst ein seltsames Schauspiel, das mir auf den ersten Blick recht lächerlich vorkam. Es exerzierten dort etwa fünfundzwanzig Mann und als ich sie aus der Ferne betrachtete, schien es mir, als stünden sie alle im hellen Sonnenlicht. Aber die Sonne schien nicht, was war das Seltsames? Ich trat näher und musste unwillkürlich über meinen Irrtum lachen, sie waren alle, bis auf den letzten Mann, rothaarig, mit roten Barten und dieses viele Rot wirkte wirklich genau wie Sonnenstrahlen. Als ich sie aber genauer betrachtete, verstummte mein Lachen, die Barte waren rot, aber die Gesichter alt und blass, wie abgestorben, mit leidvollen Augen, sie sahen aus wie die verkörperte Traurigkeit; es mussten Familienväter aus den Westgouvernementen sein. Später erfuhr ich, dass alle Rothaarigen einem bestimmten Regiment oder der Garde einverleibt werden.
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Ich habe mehr Geld erarbeitet, um über die Feiertage Saschenka dem Lazarett zu entführen und mit ihr und den Kindern für drei Tage irgendwohin nach Finnland zu fahren. Man muss sich von den Zeitungen erholen, ich bin müde. Und es ist so dunkel in den Zimmern, wir beginnen alle fast zu erblinden und die gelben Gesichter kann man kaum mehr ansehen. Müde bin ich, müde.