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Da fiel ihm auf einmal der Brief an den Bürgermeister ein.

„Den Brief könnt ihr heute abend zur Post bringen", sagte es. „Ob wir Glück haben mit der Rathausuhr oder nicht -morgen um diese Zeit werde ich jedenfalls nicht mehr im Städtchen Eulenberg sein, das steht fest."

Dann wollte es sich empfehlen, um in den Keller zu schlüpfen. Doch Jutta ließ das nicht zu. Sie bestand darauf, daß das kleine Gespenst diesmal nicht im Keller schlief, sondern im Gartenhäuschen, wo sie ihm mit den Kissen aus ihrem Puppenbett in der Sitztruhe ein bequemes Lager richtete.

„Schlafen Sie wohl - und viel Glück beim Erwachen!" wünschte sie ihm, bevor sich Schlag eins über ihm der Deckel schloß.

Laß dich nicht aufhalten, kleines Gespenst!

Abends um sieben, nachdem sie den Brief an den Bürgermeister zur Post gebracht hatten, stiegen die Apothekerskinder mit dem Uhrmachermeister Zifferle auf den Rathausturm, und Herr Zifferle drehte mit einem großen Schraubenschlüssel die Zeiger der Rathausuhr um zwölf Stunden vor, bis die Zeit auf dem Zifferblatt und die Tageszeit wieder übereinstimmten.

„So, das hätten wir", meinte er, als die Arbeit getan war. „Hoffentlich hilft es auch!"

Die Frau Apotheker konnte sich nicht erklären, weshalb die Kinder heute sofort nach dem Abendessen ins Bett gingen. Aber die letzte Nacht war für Herbert und seine Geschwister ein bißchen zu kurz gewesen. Sie stellten den Wecker auf zehn Minuten vor zwölf, dann fielen ihnen vor Übermüdung die Augen zu.

„Ich möchte bloß wissen, was mit den Kindern los ist", sagte die Frau Apotheker voll Sorge zu ihrem Mann. „Sie werden uns doch nicht krank werden?

Bisher sind sie in ihrem ganzen Leben bloß zweimal freiwillig schlafen gegangen. Das eine Mal haben sie tags darauf Mumps bekommen, beim zweiten Mal Scharlach. Es werden doch diesmal hoffentlich nicht die Masern sein oder die Windpocken!"

Herbert und Günther schliefen so fest und tief, daß sie sich vom Gerassel des Weckers nicht stören ließen. Glücklicherweise erwachte wenigstens Jutta davon, und mit einiger Mühe schaffte sie es, die Brüder munter zu kriegen.

„Rasch aufstehen, Günther und Herbert, gleich ist es soweit! Jeden Augenblick muß es zwölf Uhr schlagen!"

Vom Fenster aus konnten die Kinder das Gartenhäuschen beobachten. Es war eine finstere Nacht heute. Der Mond hielt sich hinter dichtem Gewölk verborgen. Nur gut, daß nahe am Zaun eine Straßenlaterne stand, deren Licht bis zum Gartenhäuschen hinüberschimmerte!

„Hoffentlich warten wir nicht umsonst", meinte Günther zweifelnd.

„Hoffentlich nicht", sagte Herbert genau so unsicher.

Nur Jutta war fest davon überzeugt, die Sache werde ein gutes Ende nehmen. Sie blieb ruhig und voller Zuversicht - bis zu dem Augenblick, als die Rathaus-glocke zu schlagen begann. Da bekam auch sie starkes Herzklopfen, und atemlos zählte sie jeden einzelnen Glockenschlag mit.

Vier helle Schläge, zwölf dunklere ... Es war Mitternacht!

Die Geschwister wagten sich nicht zu rühren. Sie starrten zum Gartenhäuschen hinüber.

Da, seht doch! - nun öffnete sich auf einmal die Tür drüben, und heraus huschte eine dunkle Gestalt. Sie war klein und schwarz, und sie hatte weiße Augen, die in der Finsternis leuchteten wie zwei fünfmarkstückgroße Monde.

„Da ist es!" rief Jutta und mußte vor Freude schlucken. „Da ist es ja!"

Das kleine Gespenst kam zu ihnen ans Fenster geschwebt. In der Linken trug es den Schlüsselbund, mit der Rechten winkte es den Geschwistern zu.

„Ich danke euch, liebe Kinder, ich danke euch tausendmal! Es ist nicht zu beschreiben, wie glücklich ihr mich gemacht habt durch eure Hilfe. Hätte ich einen Schatz zu hüten, ich schenkte ihn euch. Aber alles, womit ich euch danken kann, ist ein guter Wunsch. Und so wünsche ich euch, daß ihr wenigstens einmal im Leben so glücklich sein dürft, wie ich es heute bin."

„Das ist lieb von dir", sagte Jutta, und keines der Kinder

128 stieß sich daran, daß sie das kleine Gespenst geduzt hatte.

Auch das kleine Gespenst fand das ganz in der Ordnung.

„Nicht wahr, ihr seid nicht böse, wenn ich mich jetzt empfehle?" sagte es. „Aber es zieht mich gewaltig zurück nach dem Eulenstein. Ich kann es schon kaum erwarten, bis ich zu Hause bin."

„Aber klar", sagte Günther; und Herbert meinte: „Laß dich nicht aufhalten, kleines Gespenst, wir verstehen das."

Wieder Mondschein

Nun schwebte das kleine Gespenst nach Hause: über die Dächer des schlafenden Städtchens hinweg zum Rathaus, vom Rathaus über den Grünen Markt nach dem Oberen Tor und vom Oberen Tor zu der Burg hinauf.

„Lebt wohl da unten, ihr Bürger von Eulenberg! Ihr habt in den beiden letzten Wochen allerlei Ärger mit mir gehabt, doch nun seid ihr mich endlich los, und das ist die Hauptsache. Jedenfalls habe ich nicht die geringste Absicht, mich jemals wieder im Städtchen zu zeigen. Ich bleibe von nun an dort, wohin ich gehöre.

Von meiner Burg soll mich nichts mehr weglocken, nicht einmal meine eigene Neugier!"

Dreimal umkreiste das kleine Gespenst die Mauern des Eulensteins, dreimal den Burgturm und dreimal das Herrenhaus mit dem Rittersaal. Alles war unverändert, obwohl es ihm vorkam, als sei es seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen.

„Ob ich dem General meine Aufwartung mache?" dachte es. „Aber nein, das hat Zeit bis zur nächsten Regennacht. Heute habe ich etwas sehr viel Wichtigeres zu erledigen ..."

Der Uhu Schuhu saß im Geäst der hohlen Eiche und wunderte sich kein bißchen, als plötzlich das kleine Gespenst heranschwebte und sich an seiner Seite niederließ.

„Sie gestatten, Herr Schuhu?"

„Ich wüßte nicht, was ich lieber gestattete."

Eine Zeitlang hockten die beiden Freunde nebeneinander und schwiegen.

„Man hat Ihnen also geholfen?" fragte der Uhu schließlich.

, Man hat, wie Sie sehen", sagte das kleine Gespenst. „Der Rat, den Sie Jutta und ihren Brüdern gestern gegeben haben, war Gold wert. Ich danke Ihnen, dafür!"

„Bitte, bitte, mein Lieber!" Der Uhu plusterte sein Gefieder auf. „Es war, unter uns gesagt, reiner Eigennutz."

„Eigennutz ...?"

„Reiner Eigennutz!" wiederholte der Uhu und nickte dabei zur Bekräftigung mit dem Kopf. „Ich fand es allmählich langweilig ohne Sie. Das Leben gefällt mir bedeutend besser, wenn jemand da ist, der einem Gesellschaft leistet. Sie haben gewiß eine ganze Menge erlebt in Eulenberg. Bitte, erzählen Sie!"

„Wie Sie wünschen", sagte das kleine Gespenst.

Es wollte gerade anfangen, seine Abenteuer im Städtchen zum besten zu geben: wie es den Schutzmann erschreckt und die Marktweiber auf dem Grünen Markt verscheucht hatte, seinen Auftritt im Rathaus und die Geschichte mit Torstenson und den Schweden, die keine waren - da geschah etwas Unerwartetes, etwas, wodurch es am Weitererzählen gehindert wurde, bevor es noch richtig damit begonnen hatte.

Auf einmal trat nämlich hinter dem dichten schwarzen Gewölk, das den Himmel bedeckte, der Mond hervor, groß und rund, eine Scheibe von blankem Silber.

Und einer der silbernen Mondstrahlen traf das kleine Gespenst.

Und dem kleinen Gespenst wurde unsäglich wohl zumute. Es fühlte sich leicht und frei, viel leichter und freier, als es sich je gefühlt hatte.

Und dann merkte es plötzlich: Ich bin ja auf einmal kein schwarzes Gespenst mehr, ich leuchte ja wieder, ich bin ja weiß!

„Ich bin weiß!" rief es staunend und glücklich aus. „Ich bin weiß, ich bin weiß, ich bin weiß, weiß, weiß, weiß!"

Da lachte der Uhu Schuhu und meinte:

„Das wundert Sie wohl? Aber eigentlich ist es ganz einfach und selbstverständlich, mein lieber Freund. Die Sonne war schuld daran, daß Sie schwarz wurden - und der Mond hat Sie wieder weiß gemacht.