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Wieder einmal schlug die Rathausuhr zwölf, und wie immer erwachte das kleine Gespenst mit dem letzten Glockenschlag. Es rieb sich den Schlaf aus den Augen, es reckte und streckte sich, wie es seine Gewohnheit war. Dann entstieg es der Truhe, stieß mit dem Kopf an die Spinnweben, mußte niesen -„Hatzi!" - und kam schlüsselrasselnd hinter dem Schornstein hervorgeschwebt.

Aber nanu, wie verändert der Dachboden heute aussah! War er nicht sehr viel heller als sonst, viel geräumiger?

Durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln schimmerte goldenes Mondlicht herein, daran lag es wohl.

Goldenes Mondlicht?

Mondlicht ist silberweiß, manchmal mit einem Stich ins Bläuliche . . . Aber golden?

„Wenn es kein Mondlicht ist", überlegte das kleine Gespenst, „- was denn dann?"

Es huschte zum nächsten Dachfenster, um einen Blick ins Freie zu werfen, - aber sogleich fuhr es wieder zurück und hielt sich die Augen zu.

Das fremde Licht draußen war so grell, daß sich das kleine Gespenst erst langsam daran gewöhnen mußte. Vorsichtig blinzelnd schaute es aus dem Fenster. Es verstrich eine ganze Weile, bis es die Augen öffnen und richtig hinsehen konnte.

„Ah!" rief es aus und staunte.

Wie hell war die Welt heute! Und wie bunt sie war!

Bisher hatte das kleine Gespenst gemeint, daß die Bäume schwarz seien und die Dächer grau. Nun merkte es, daß sie in Wirklichkeit grün und rot waren.

Jedes Ding hatte seine besondere Farbe!

Türen und Fensterrahmen waren braun angestrichen, die Vorhänge in den Wohnungen bunt gemustert. Im Burghof lag gelber Kies, die Grasbüschel auf den Mauern leuchteten saftig grün, vom Turm wehte eine Fahne mit roten und goldenen Streifen - und hoch über allem wölbte sich klar und strahlend der prächtige blaue Sommerhimmel, an dem ein paar einzelne weiße Wölkchen dahintrieben, klein und verloren wie Fischerboote auf einem weiten Meer.

„Herrlich, ganz herrlich!" jauchzte das kleine Gespenst und kam aus dem Staunen gar nicht heraus.

Es dauerte einige Zeit, bis ihm klar wurde, was geschehen war.

„Sollte ich wirklich einmal bei Tag erwacht sein?"

Es rieb sich die Augen, es zwickte sich in die Nase -wahrhaftig, es träumte nicht!

„Es ist Tag, es ist heller Tag!" rief das kleine Gespenst außer sich vor Freude.

Wie und warum sich gerade heute sein Wunsch erfüllt hatte, wußte es nicht.

Vielleicht war ein Wunder geschehen?

Wer konnte das sagen .. .

Aber dem kleinen Gespenst war es einerlei. „Hauptsache", dachte es, „daß ich mir endlich einmal die Welt bei Tage betrachten kann! Los jetzt, ich darf keine Zeit verlieren, ich muß mich ein wenig genauer umsehen auf dem Eulenstein!"

Schatten und Sonne

Neugierig eilte das kleine Gespenst die Bodenstiege hinunter. Es wischte ins Treppenhaus, schwebte vom dritten Stock in den zweiten, vom zweiten Stock in den ersten, vom ersten ins Erdgeschoß. Dann huschte es in die Vorhalle, die auf den Burghof führt.

Aber der Zufall wollte es, daß ausgerechnet an diesem Vormittag der Herr Oberlehrer Thalmeyer mit seiner vierten Klasse im Burgmuseum gewesen war - und daß er mit seinen Schülern gerade in diesem Augenblick von der anderen Seite her in die Halle kam.

Als die Kinder das kleine Gespenst erblickten, fingen die Mädchen zu kreischen an, und die Buben schrien:

„Herr Thalmeyer, ein Gespenst! Ein Gespenst, Herr Thalmeyer!"

Das gab einen Heidenlärm in der Vorhalle, und das kleine Gespenst, das an Kindergeschrei nicht gewöhnt war, bekam einen solchen Schreck davon, daß es schleunigst Reißaus nahm. Es sauste zur Tür hinaus, auf den Burghof.

Da meinten die Kinder, das kleine Gespenst habe Angst vor ihnen.

„Schnell, schnell!" riefen ein paar Buben. „Wir wollen ihm nachlaufen und es einfangen!"

„O ja!" schrien alle übrigen, „einfangen, einfangen! Aber geschwind, sonst entwischt es uns!"

Bevor der Herr Oberlehrer Thalmeyer sie daran hindern konnte, rannten alle siebenunddreißig Kinder der Klasse los, um das kleine Gespenst zu fangen. Sie stürmten mit Indianergeheul durch die Halle und drängten zur Tür hinaus.

„Seht ihr es? Seht ihr es?" riefen die, die am weitesten hinten waren; und die, die am weitesten vorn liefen, schrien: „Dort drüben rennt es!"

Das kleine Gespenst hielt sich möglichst lange im Schatten der Burgmauern, denn es scheute wie alle Nachtgeschöpfe das volle Sonnenlicht. Im übrigen hatte es seinen Spaß daran, von den Kindern gejagt zu werden.

„Schreit ihr nur!" dachte es. „Wenn ihr glaubt, daß ich vor euch Angst habe, irrt ihr euch!"

Einmal ließ es die Kinder auf wenige Schritte herankommen. Als aber die vordersten Buben es packen wollten, schlug es plötzlich einen Haken - und seine Verfolger purzelten auf die Nase.

„Das ist gut, das ist sehr gut!" dachte das kleine Gespenst.

„Das versuchen wir gleich noch ein paarmal . . ."

Auch beim zweitenmal klappte die Sache großartig. Aber beim drittenmal paßte das kleine Gespenst nicht auf, da geriet es beim Ausweichen aus dem Mauerschatten hinaus in das pralle Sonnenlicht.

Nun geschah etwas Seltsames!

Kaum hatte der erste Sonnenstrahl es berührt, als das kleine Gespenst einen furchtbaren Schlag auf den Kopf bekam, der es fast zu Boden warf. Laut aufheulend schlug es die Hände vor das Gesicht und begann zu taumeln. Im gleichen Augenblick riefen die Kinder:

„Ui, seht doch! Was ist denn mit dem Gespenst los? Zuerst war es weiß - und jetzt ist es auf einmal schwarz! Es ist schwarz wie ein Schornsteinfeger!"

Das kleine Gespenst hörte die Kinder schreien, ohne sie zu verstehen. Es fühlte, daß irgend etwas mit ihm geschehen war, was es sich nicht erklären konnte.

Woher sollte es denn auch wissen, daß Gespenster vom ersten Sonnenstrahl, der sie trifft, schwarz werden?

„Ich muß weg!" war sein einziger klarer Gedanke. „Weg muß ich! Weg von hier!" Doch wohin in der Eile?

Zurück auf den Dachboden konnte es nicht, weil die Schulkinder ihm den Weg versperrten . . .

Aber der Brunnen dort, in der Mitte des Burghofes! Wenn es sich in den Brunnen stürzte?

Im Brunnen war es in Sicherheit. Vor den Kindern und vor den Sonnenstrahlen . . .

Das kleine Gespenst überlegte nicht lang. Es eilte zum Brunnen und sprang hinein.

Als die Kinder das sahen, erschraken sie furchtbar.

„Herr Thalmeyer!" riefen sie. „Schnell! Das Gespenst hat sich in den Brunnen gestürzt!"

Herr Thalmeyer glaubte nicht an Gespenster. Er war überzeugt, daß ein Mensch in den Brunnen gefallen war.

„Um Himmels willen!" rief er und rang die Hände. „Was für ein Unglück, Kinder! Wir müssen sofort um Hilfe rufen! Schreit, Kinder, schreit!"

Herr Thalmeyer und die siebenunddreißig Schulkinder riefen um Hilfe. Sie riefen so laut, daß der Burgverwalter und die beiden Aufseher aus dem Museum und alle Leute, die gerade da waren, um die Burg zu besichtigen, herbeigestürzt kamen und ganz entgeistert fragten, was denn um Gotteswillen geschehen sei.

„Stellen Sie sich vor", stammelte Herr Thalmeyer, „jemand ist in den Brunnen gefallen!"

„Etwa eines von Ihren Schulkindern?" fragte der Burgverwalter entsetzt.

„Glücklicherweise nicht, sondern ..."

„Sondern?"

Herr Thalmeyer zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht", sagte er. „Aber wir alle haben gesehen, wie er hineingefallen ist - und ich finde, wir müssen unbedingt alles tun, um ihn wieder herauszuholen!"

Im Brunnenschacht

Auf dem Grunde des Brunnenschachts, der gut und gern seine vierzig Meter tief war, stand Wasser. Das Wasser war schwarz und kalt. Das kleine Gespenst hatte nicht die geringste Lust, damit in Berührung zu kommen. Es fand in der Brunnenwand einen Vorsprung, der breit genug war, um sich darauf zu setzen. Hier ließ es sich nieder und sah auf den dunklen Wasserspiegel hinab.