Eadulf bemerkte, daß sich Fidelma erhoben hatte, also tat er es ihr widerstrebend gleich.
Der Abt hustete nervös. »Ihr befindet euch in Gegenwart von .«
»Gwlyddien, König von Dyfed«, unterbrach ihn Fidelma und verneigte sich.
Der König kam auf sie zu, lächelte herzlich und streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. »Du hast ein scharfes Auge, Fidelma von Cashel, und einen wachen Verstand, denn ich bin mir sicher, daß wir uns zuvor noch nie begegnet sind.«
»Nein, doch über den Sohn von Nowy wird unter den Geistlichen dieser Inseln immer voller Respekt gesprochen. War dein Vater nicht auch berühmt dafür, daß er der Kirche große Unterstützung angedeihen ließ?«
Gwlyddien senkte den Kopf. »Ganz gleich, welches Ansehen ich genieße, es gibt nur wenige Anhaltspunkte, an denen du mich erkennen könntest.«
»Das ist wohl wahr. Ich habe dich an dem königlichen Zeichen von Dyfed erkannt, das auf deinem Mantel eingestickt ist, und an dem goldenen Siegelring an deinem Finger. Es war recht einfach.«
Gwlyddien lachte. »Was ich von dir gehört habe, scheint zu stimmen, Fidelma von Cashel.« Jetzt wandte er sich mit ausgestreckter Hand Eadulf zu, der, von ihrem Wortwechsel ein wenig befremdet, abseits gestanden hatte. »Und wo Fidelma hingeht, da ist natürlich auch ihr Begleiter Eadulf von Seaxmund’s Ham. Unsere Barden berichten uns, daß vor zweihundert Jahren das Land des Südvolks, das Land, aus dem du stammst, einst das Königreich jener Britannier war, die man die Trinovantes nennt. Aus diesem Stamm ist einer unserer größten Könige hervorgegangen - Cu-nobelinos, der Hund von Belinos, gegen den nicht einmal die römischen Kaiser Krieg zu führen wagten.«
Eadulf trat nervös von einem Bein aufs andere. »Tempus edax rerum«, murmelte er eine Zeile von Ovid.
Einen Augenblick lang starrte ihn Gwlyddien mißbilligend an. Dann seufzte er und senkte den Kopf, als akzeptiere er das Unvermeidliche.
»Ja, die Zeit verschlingt alle Dinge. Doch sagt nicht auch Vergil, daß das Schicksal einen Weg findet? Was einst war, kann vielleicht wieder sein.«
Eadulf war das unangenehm. Er hatte gehört, daß die Britannier nicht die Hoffnung aufgegeben hatten, eines Tages die Angelsachsen wieder aufs Meer hinauszutreiben. Er fragte sich, wie er dem König antworten sollte, doch das brauchte er nicht mehr. Gwlyddien hatte auf dem Lehnstuhl Platz genommen, den der Abt ihm frei gemacht hatte, während der sich nun auf einem einfachen Stuhl niederließ.
»Setzt euch«, forderte sie der König mit einer ungeduldigen Handbewegung auf. »Die Antwort auf die Frage unseres sächsischen Freundes ist einfach. Von den Reisenden, die von Eireann durch unser Land kommen, und von den vielen Brüdern und Schwestern aus deinem Land, die an dieser Abtei studieren, erfuhren wir, wie Fidelma von Cashel dieses oder jenes rätselhafte Geheimnis gelöst oder diesen und jenen Fall aufgeklärt hat. Nachdem ich mit Abt Tryffin die Sache besprochen habe, glaube ich, daß du von Gott persönlich hierher in unsere Abtei gesandt worden bist, damit du uns beistehst.«
Es war allzu deutlich, daß ihr Besuch der Abtei Dewi Sant allein dem Ansehen seiner Gefährtin zu verdanken war. Ihn tolerierten die Britannier gerade -mehr nicht. Eadulf versuchte, sich seine finsteren Gedanken nicht anmerken zu lassen.
Fidelma hatte sich zurückgelehnt und betrachtete Gwlyddien mit gelassener Miene. »Mein Mentor Bre-hon Morann sagte immer, daß Komplimente nichts kosten und man doch teuer dafür bezahlt. Nach solchen Komplimenten für mich und Bruder Eadulf muß ich fragen, welcher Preis dafür gezahlt werden muß?« Sie hatte Eadulfs Namen mit leichtem Vorwurf ein wenig betont, weil der König ihn nicht erwähnt hatte.
Gwlyddien war so offene Worte anscheinend nicht gewohnt, und dem Abt schien ihre Frage peinlich zu sein. Doch der König blieb freundlich.
»Glaub mir, Fidelma von Cashel, ich bin kein Schmeichler.«
»Oh, da bin ich mir sicher«, erwiderte Fidelma rasch. »Also wollen wir gleich auf den Kern deines Anliegens zu sprechen kommen, als uns weiter mit Nebensächlichkeiten aufzuhalten.«
Auf eine Handbewegung des Königs hin sprach nun Abt Tryffin.
»Etwa zwanzig Meilen nördlich von uns befindet sich eines unserer Tochterhäuser, die Abtei von Llan-padern. Die Bezeichnung Abtei ist vielleicht ein wenig übertrieben für die kleine Klostergemeinschaft, die dort lebt. Bruder Cyngar, ein Mönch aus einem anderen Kloster, kam auf seinem Weg zu uns an Llanpa-dern vorbei und wollte dort um Gastfreundschaft bitten. Er traf gestern zutiefst bestürzt und verängstigt hier ein. Er ist jedoch jung und leicht zu beeindruk-ken. Seinen Berichten entnehmen wir, daß das Kloster verlassen und leer ist. Wie ausgestorben.«
Abt Tryffin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, als erwarte er eine Reaktion auf seine Worte.
Fidelma erkundigte sich ruhig: »Wie viele Mönche leben sonst in Llanpadern?«
»Siebenundzwanzig. Sie arbeiten auf dem Feld, führen einen kleinen Bauernhof und versorgen sich selbst.«
Fidelmas Augen weiteten sich. »Siebenundzwanzig? Ist diese Zahl zufällig gewählt worden?«
Abt Tryffin zeigte sich erstaunt über ihre Frage.
»Wenn es einer längeren Erklärung bedarf, ist es eher unwichtig«, überging Fidelma ihre Frage rasch. In ihrem Land hatte die Zahl siebenundzwanzig eine mystische Bedeutung. »Also, Bruder Cyngar fand das Kloster menschenleer vor, und er konnte vermutlich nicht feststellen, warum das so war?«
»Nein, das konnte er nicht.«
»Hat er alle Gebäude gründlich durchsucht?«
»Ja. Ihm fiel auf, daß die Kerzen fast alle noch brannten, daß das Essen auf den Tischen stand, halb gegessen. Man hatte offenbar nur wenige Stunden zuvor alles stehen- und liegenlassen. Ratten hatten sich inzwischen breitgemacht. Selbst das Vieh auf dem Hof war verschwunden.«
Fidelma wandte sich nun Gwlyddien zu. »Weshalb mißt du ausgerechnet diesem Vorfall eine solche Bedeutung bei?«
Der König blickte überrascht auf. »Wieso kommst du darauf, daß er mich besonders interessiert?«
»Ich frage mich, warum sich der König von Dyfed über eine kleine religiöse Gemeinschaft und ihren Verbleib Sorgen macht. Du könntest die Angelegenheit doch auch Abt Tryffin überlassen. Aber du scheinst Wert darauf zu legen, daß wir eine Erklärung für das Geschehen finden.«
»Du hast einen scharfen Verstand, eine rasche Auffassungsgabe, Fidelma von Cashel. Richtig, ich habe am Schicksal dieser Gemeinschaft besonderes Interesse.« Er zögerte, als versuchte er, seine Gedanken zu ordnen »Mein Sohn ... Mein ältester Sohn heißt Rhun, ein gescheiter Bursche. Vor sechs Monaten beschloß er, dem Kloster Llanpadern beizutreten. Eigentlich hatte ich gedacht, er würde danach streben, die Herrschaft über dieses Land zu übernehmen, mich darin eines Tages abzulösen. Doch dann entschied er sich plötzlich, Mönch zu werden.«
»Und dein Sohn Rhun befindet sich nun unter den Mönchen, die in Llanpadern vermißt werden?« fragte Fidelma.
»So ist es.«
Kurzes Schweigen trat ein. Dann erkundigte sich Fidelma: »Was denkst du selbst darüber, Gwlyddien?«
Der König schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Hexerei, Schwester Fidelma. Und dennoch: Wenn nicht durch Hexerei, wie kann sich eine ganze Klostergemeinschaft sonst plötzlich in Luft auflösen?«
Fidelma lächelte schmerzlich. »Hast du darauf eine Antwort?«
»Es gibt eine Antwort.«
Alle wandten sich nach der fremden, gebieterischen Stimme um, die sich zu Wort gemeldet hatte. Sie gehörte einem jungen Mann, der unbemerkt die Tür ge-öffnet hatte. Er war groß, mit angenehmen Zügen ausgestattet und hellem Haar, das von einem Silberreif zusammengehalten wurde. Er wirkte wie ein jüngeres Abbild von Gwlyddien, seine Augen leuchteten in der gleichen eindrucksvollen Farbe wie die des Königs. Gwlyddien zeigte mit ungeduldiger Geste auf ihn, als er den Raum betrat.