Osric lachte grimmig. »Es ist nicht das erstemal, daß die Hwicce von den Welisc angegriffen wurden, und es ist nicht das erstemal, daß wir Christen der Welisc ermordet haben. Also kann es uns gleich sein, wem man die Schuld am Tod dieser Mönche anlastet.«
»Warum sollte man die Schuld den Angelsachsen anlasten?« fragte Eadulf nachdenklich. »Um Feindseligkeit zu schüren? Allein das Wort >Angelsachse< reicht doch hier schon aus, um Haß zu erwecken, ob bei Christen oder Heiden. Steckt vielleicht noch etwas anderes dahinter?«
»Was geht mich das an, Eadulf, der Christ. Ich be-daure nur, daß mein Schiff nicht klar war, sonst hätte ich das Drachenschiff aus Gwent vernichtet. Jetzt hat es sich wahrscheinlich irgendwo an der Küste aufwärts ein Versteck gesucht.«
Eadulf blickte zu Osrics Schiff hinüber. »Wie lange dauert es, dein Schiff wieder seetauglich zu machen?«
»Das haben wir in einer Stunde geschafft. Sobald der Mast richtig steht, werde ich die Ruder ausfahren lassen und die Küste entlang weitersegeln, falls die feindlichen Krieger wieder auftauchen und uns angreifen wollen. Die Takelage reparieren wir auf See.« Er zögerte. »Aber was ist mit dir? Du bist doch von nun an nicht mehr sicher in diesem Königreich.«
Innerlich stimmte Eadulf ihm zu, laut sagte er jedoch: »Ich muß nach Llanwnda zurück. Ehe ich in meine Heimat zurückkehren kann, habe ich hier noch ein paar Dinge zu erledigen.« Während er sprach, hatte er mit den Augen den Strand und die Klippen da-hinter abgesucht. Dabei hatte er mehrere dunkle Öffnungen entdeckt. »Diese Höhlen könnten sich als sehr nützlich erweisen«, sagte er auf einmal.
»Nützlich wofür?«
»Die Leichen der Mönche wurden offenbar nur zu einem Zweck über Bord geworfen: Jene, die die Toten finden, sollen glauben, deine Leute hätten sie umgebracht. Es könnte sein, daß die Welisc nun an der ganzen Küste entlang Alarm schlagen. Und dann kommen sie vielleicht zurück, um euch zu vernichten.«
»Dafür brauchten sie keine Rechtfertigung«, ent-gegnete Osric.
»Das weiß ich auch«, erwiderte Eadulf, »aber Tatsache ist, daß das alles ziemlich geplant aussieht. Wem es jedoch als Rechtfertigung gelten soll, das ist es, was wir nicht wissen.«
»Was willst du damit sagen, gerefa?«
»Bis ich herausgefunden habe, was dahintersteckt, würde ich noch etwas Zunder ins Feuer werfen.«
»Wie willst du das anstellen?« fragte Osric.
»Vielleicht könnte ich mir zwei deiner Leute nehmen, um die Leichen, die noch im Wasser treiben, an Land zu bringen. Sie könnten mir auch dabei helfen, die Toten in einer dieser Höhlen zu verstecken. So entdeckt man sie nicht gleich, und das könnte den Plan der Welisc zunichte machen, was immer sie vorhaben.«
Osric grinste und schlug sich auf die Schenkel. »Du sprichst wie ein Mann der Tat und wie ein wahrer gerefa, Eadulf, der Christ. Ich habe stets angenommen, alle Leute des neuen Glaubens reden nur von Frieden, Liebe und Aufrichtigkeit. Doch du bist ein Mann, der sich einreihen darf bei jenen, die Tiw, dem mächtigen Gott des Krieges und der Kriegskunst, dienen.«
Eadulf nahm das Kompliment ohne Widerrede an. Schließlich war es gar nicht so lange her, daß er Wotan, Tiw, Thunor, Frigg und den ganzen Kreis der sächsischen Götter anbetete.
Osric erteilte seinen Männern ein paar Befehle, und sie ruderten mit dem Boot auf die im Wasser treibenden Toten zu, die sich langsam Richtung Ufer bewegten.
Osric kehrte zu Eadulf zurück. »Ich werde dir hier helfen.«
Zusammen hoben sie den ersten Toten hoch und kletterten mühsam zum Fuß der Klippen, dort legten sie ihn ab. Eadulf untersuchte die verschiedenen Höhleneingänge. Er wählte jenen, wo einem, der nur flüchtig hineinblickte, die Leichen verborgen blieben. Osric und Eadulf trugen den ersten Toten hinein. Als sie den zweiten holen wollten, waren Osrics Männer schon mit dem nächsten eingetroffen und holten auch noch die beiden anderen Leichen. Eadulf sorgte inzwischen dafür, daß es keinerlei Spuren gab, die Fremde zu der Höhle locken könnten.
»Was machen wir jetzt, Eadulf, der Christ?«
»Jetzt werde ich nach Llanwnda zurückkehren und versuchen, auf diese oder jene Weise herauszufinden, was hinter alldem steckt.«
Osric schüttelte den Kopf und lächelte. »Du bist ein mutiger Mann, daß du unter diesen Barbaren bleibst.«
»Hast du jemals darüber nachgedacht, Osric«, erwiderte Eadulf lächelnd, »wie verrückt die Welt ist, wenn ein Volk das andere jeweils für barbarisch hält?«
»Eines Tages werde ich möglicherweise Zeit haben, mich näher mit deinem christlichen Glauben zu beschäftigen, Eadulf. Wer weiß, vielleicht können wir davon noch etwas lernen?«
»Vielleicht«, stimmte ihm Eadulf feierlich zu.
Der junge Adlige hob zum Abschied die Hand und lief zum Strand hinunter zu seinem Boot. Eadulf ging raschen Schrittes den Weg zu den Klippen hinauf, dorthin, wo sein Pferd angebunden war. Als er zurückblickte, bemerkte er, daß der neue hohe Mast aufgerichtet war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Osrics Schiff aus der Bucht herausfuhr.
Er stieg auf sein Pferd und ritt in raschem Galopp Richtung Llanwnda.
»Du bist aber lange fort gewesen! Ich habe auf dich gewartet!«
Eadulf hatte gerade die kleine Brücke über den Fluß erreicht, der die Grenze von Llanwnda bildete. Fidelmasaß auf einem umgefallenen Baumstamm, ihr Pferd hatte sie in der Nähe angebunden.
Eadulf hielt an und saß ab. »Es ist etwas Ungewöhnliches passiert, das hat mich aufgehalten«, erwiderte er.
»Möchtest du mir davon erzählen?« fragte sie.
Er blickte auf die Häuser des Ortes, die offenbar immer noch verlassen waren. »Wo sind sie alle hin?«
»Sie halten sich irgendwo versteckt, schätze ich. Sie trauen den Sachsen nicht. Ich habe einem von Gwndas Leuten gesagt, daß sie nichts zu befürchten hätten, doch er hat mir wohl nicht geglaubt.«
Die Pferde am Zügel haltend, gingen sie über die Brücke nach Llanwnda hinein. Eadulf berichtete ihr rasch alles, was geschehen war und was er getan hatte.
Fidelma dachte ein ganze Weile nach. »Das ist ziemlich raffiniert«, sagte sie schließlich.
Eadulf zog eine Augenbraue hoch. »Raffiniert würde ich es nicht gerade nennen.«
»Man kann diese Vorkommnisse mit keinem anderen Wort beschreiben. Sag mir - und laß dich nicht von einem falschen Gefühl der Verbundenheit zu deinen Landsleuten leiten -, traust du diesem Osric?«
Eadulfs Gesicht verfinsterte sich sofort. »Was meinst du mit trauen?«
»Glaubst du seine Geschichte? War es wirklich das Schiff dieses Morgan von Gwent, welches er verfolgte und welches später in die Bucht gesegelt kam?«
»Soweit es meine Fähigkeit betrifft, jene zu erkennen, die es nicht so genau mit der Wahrheit nehmen, kann ich sagen, daß er die reine Wahrheit sprach. Er hat auch nicht verstanden, warum das rote Drachenschiff ihn und seine Mannschaft nicht vernichtet hat, als es die Möglichkeit dazu hatte.«
Fidelma nickte rasch. »Das ist höchst seltsam. Sicher, wer immer Kapitän auf dem Schiff ist, er hätte gewußt, daß Osric nicht noch einmal darauf warten würde, sich angreifen zu lassen, oder? Warum haben sie die Chance nicht genutzt? Du meinst, dieser Morgan wollte einfach nur die Leichen in der Bucht abladen? Daß die Sachsen für das Gemetzel verantwortlich gemacht werden sollen, liegt klar auf der Hand. Doch aus welchem Grund?«
»Das habe ich mich auch schon mehrere Male gefragt.«
»Wenn es sich bei den Leichen um die Mönche aus Llanpadern handelt und wenn es nicht Osrics Männer waren, die das Kloster überfallen haben, warum sollte es Morgan gewesen sein? Und warum will er den Angelsachsen dafür die Schuld zuschieben?«