»Erkennst du sie?« erkundigte sie sich noch einmal.
»Die habe ich vor zwanzig Jahren zum letztenmal gesehen. Wo hast du sie her?«
»Iolo, der Schäfer, hat sie vor seinem Tode Idwal gegeben. Iolo sagte dem Jungen, die Kette hätte seiner Mutter gehört.«
Iorwerth schreckte zurück. Seine Augen weiteten sich, der Mund stand leicht offen. Dann gewann er offenbar die Fassung wieder, seine verzerrten Gesichtszüge glätteten sich.
»O mein Gott!« rief er.
Ehe Eadulf und Fidelma noch etwas tun konnten, packte er die Mähne seines ungesattelten Pferdes, schwang sich hinauf und ritt in wildem Galopp über die Brücke in den Wald hinein.
Kapitel 19
»Nun gut, er hat die Kette erkannt. Doch was sagt uns das? Was können wir daraus ableiten?« fragte Eadulf übellaunig.
Fidelma lächelte ihn zufrieden an. »Die Schlußfolgerung ist ganz einfach, Eadulf. Ich glaube, das Bild rundet sich ab.«
Eadulf schien fast so überrascht wie Iorwerth zuvor. »Das kannst du doch nicht ernst meinen!«
»Aber gewiß doch«, erwiderte Fidelma trocken. »Wollen wir nur hoffen, daß unser junger Freund Dewi bald aus der Abtei Dewi Sant zurück ist.«
»Was ist dann?«
»Ganz einfach. Wir werden die Schuldigen benennen und nach Porth Clais zurückkehren, um auf ein Schiff zu warten. Du willst doch sicher die Reise nach Canterbury fortsetzen, oder?«
Eadulf erwiderte nichts darauf.
»Gut«, fuhr Fidelma fort, als hätte sie eine Antwort erhalten. »Heute, am Vorabend zu Allerheiligen, dem alten heidnischen Totenfest, können wir feiern. Gehen wir auf das Fest und sehen uns das Feuer an.«
»Bist du sicher, daß du die Lösung gefunden hast?« fragte Eadulf wenig überzeugt.
»Ich hätte es sonst nicht gesagt«, entgegnete Fidelmaruhig.
Die Abendmahlzeit, die von der schweigsamen Bud-dog serviert wurde, fand in einer düsteren Atmosphäre statt. Gwnda saß mißgestimmt am Kopf der Tafel, seine Finger trommelten gelegentlich auf die Tischplatte. Er schien mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein. Die Hauptspeisen waren gerade abgeräumt worden, da brachte Buddog einen Teller mit kleinen Kuchen herein, die mit Stachelbeeren verziert waren.
»Die sind aber fein«, sagte Eadulf in dem verzweifelten Bemühen, die angespannte Stimmung aufzulok-kern.
»Kennst du die noch nicht?« fragte Fidelma bedauernd. »Zu Hause nennen wir sie gesprenkelte Küchlein und reichen sie auch zu dieser Zeit im Jahr ...«
Eadulf hatte herzhaft in einen der kleinen Kuchen gebissen, da verzog er vor Schmerzen das Gesicht. Er führte die Hand zum Mund und holte einen kleinen glänzenden Fingerring heraus. Er hielt ihn hoch und starrte ihn überrascht an.
»Was zum Teufel ...?«
Fidelma kicherte vergnügt. »Keine Sorge, du wirst nicht vergiftet. Das ist nur ein Brauch.«
Eadulf wendete den Ring neugierig hin und her. »Was bedeutet das?« fragte er.
Er bemerkte nicht, daß Fidelma ein wenig errötete.
»Das werde ich dir später erklären«, sagte sie. »Das ist ein Brauch zu diesem Fest.«
Von draußen drangen Musik und singende Kinderstimmen zu ihnen herein. Eadulfs Miene drückte Ratlosigkeit aus.
»Das ist zum Vorabend von Allerheiligen«, erklärte Gwnda verdrießlich.
»O ja, das neue Fest.« Eadulf erinnerte sich an Fidelmas Erläuterung.
»Neu?« fragte Fidelma recht verärgert. »Komm, Eadulf, du weißt doch gewiß, wie alt dieses Fest ist? Du lebst schon lange genug in den fünf Königreichen, wenn du auch bisher nicht gewußt hast, daß die Bri-tannier den Tag feiern.«
»Ich weiß, daß Bonifazius, der Vierte seines Namens, Bischof in Rom, vor fünfzig Jahren Allerheiligen als Feiertag eingeführt hat«, erwiderte Eadulf halsstarrig.
»Weil er nicht verhindern konnte, daß die Gallier, Britannier und die Iren das alte Neujahrsfest, das Fest von Samhain, feierten. Also hat er diesen Tag in ein christliches Gewand gekleidet. Stimmt das nicht, Gwnda?«
Der Fürst von Pen Caer war immer noch schlecht gelaunt. »Was ist? Ach ja. Unser Volk hat das Fest von Calan Gaeaf seit Anbeginn gefeiert.«
»Wir nennen es immer noch Samhain«, erklärte Fidelma. »Viele meinen, dieser Tag in den Wintermonaten sei der eigentliche Beginn des neuen Jahres. Früher glaubte man nämlich, die Dunkelheit komme vor der Wiedergeburt des Lebens. Und« - sie lächelte kurz -»außerdem behaupteten die Vorfahren, dies sei die beste Zeit des Jahres für Frauen, um schwanger zu werden, denn dann erblicke das Kind in der Zeit des Lichts die Welt.«
»Ich hatte immer gedacht, daß es ein Totenfest sei«, meinte Eadulf.
»In gewisser Weise ist es das auch«, stimmte ihm Fidelmazu. »Weil es Ende und Anfang markiert. Die Weisen der Vorfahren dachten, in dieser Nacht sei die Zeit außer Kraft gesetzt und die Grenzen zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen seien verwischt. Es ist die Zeit, in der das Jenseits für diese Welt sichtbar wird . Eine Zeit, in der die Dahingeschiedenen, denen du einst ein Unrecht zugefügt hast, zu dir zurückkehren, um Rache zu nehmen . Um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wiederherzustellen.«
Mit großem Gepolter stieß Gwnda seinen Stuhl zurück und schritt aus dem Raum.
Eadulf lächelte verlegen. »Damit scheint er seine liebe Not zu haben«, bemerkte er sarkastisch.
»Viele Leute haben damit Schwierigkeiten, wenn sie wirklich an die Wiederkehr der Seelen glauben. In früheren Tagen folgte man dem moralischen Grundsatz, sich bereits zu Lebzeiten gegenüber seinen Freunden und Nachbarn so zu verhalten, wie es sich gehörte.« Sie machte eine Pause und neigte den Kopf zur Seite. Sie lauschte der Musik und den Rufen draußen. »Komm, laß uns mitfeiern. Die Feuer sind wahrscheinlich schon angezündet.«
Die Nacht war schwarz. Der Mond stand tief über dem Horizont, sobald er sich zwischen den Wolken hervorschieben konnte. In der Ferne waren über den Hügeln hier und da helle Punkte zu sehen: einzelne Freudenfeuer. Das Feuer von Llanwnda brannte bereits, die Rufe und Schreie der Kinder übertönten die Hirtenflöten, den Rhythmus der Ziegenfelltrommeln und das Plärren der Hörner. Einige ältere Leute tanzten in einem Kreis vor dem Feuer. Fidelma und Eadulf gesellten sich zu der Menge und schauten in die aufsteigenden Flammen.
Die Strohpuppe, die sie in Iorwerths Schmiede entdeckt hatten, war fast völlig verbrannt. Nur noch ein paar Reste konnte man ganz oben auf dem glühenden Holzstapel erkennen.
»Menschenopfer?« fragte Eadulf mit einem zynischen Grinsen.
Fidelma nahm die Frage ernst. »In alten Zeiten herrschte der Brauch, dem keltischen Gott Taranis, dem Herrn über Blitz und Donner, in einem hölzernen Gefäß Opfergaben darzubringen. Manche sagen, daß das Gefäß eine hölzerne Menschenskulptur war, die den Überbringer von Botschaften an die Götter symbolisierte.«
Doch Eadulf schien ihr nicht recht zuzuhören; er blickte sich unter den Leuten am Feuer um.
»Was ist?« fragte Fidelma.
»Ich will mal sehen, ob ich nicht Iorwerth oder unseren Freund Iestyn in der Menge entdecke«, entgeg-nete er. »Ich erwarte eigentlich, daß sie bei einem solchen Fest zugegen sind.«
Fidelma nickte zustimmend. Da schaute sie auf einmal in das grinsende Gesicht Iestyns, der hinter ihr gestanden hatte.
»Immer noch nicht fort, Gwyddel?« spottete er.
»Wie du sehen kannst«, erwiderte sie ruhig. »Doch wir hoffen, morgen aufzubrechen.«
»Morgen? Ihr wollt morgen los?« Seine Stimme klang recht herausfordernd.
Fidelma ließ ihn einfach stehen und zog Eadulf mit sich fort. Der Bauer schaute ihnen mißtrauisch hinterher.
Als sie außer Hörweite waren, fragte Eadulf besorgt: »Warum hast du ihm das gesagt? Du weißt doch, daß er nichts Eiligeres zu tun haben wird, als es seinem Freund Clydog mitzuteilen. Sie werden uns unterwegs abfangen.«