Durch die vielfältigen Berichte über Augustinus war Eadulf klargeworden, daß ihm die alte römische Arroganz der Eroberer eigen gewesen war. Für Augustinus waren die Britannier Barbaren, eine Haltung, die auch die Befehlshaber der römischen Legionen geteilt hatten. Augustinus hatte Deniol, den Bischof von Bangor, gefragt, warum die Geistlichen der Britannier ihrer Pflicht gegenüber dem neuen Glauben nicht nachgekommen waren und die Angelsachsen zum Christentum bekehrt hatten. Deniol hatte sarkastisch entgegnet, daß es schwierig sei, einem Menschen Liebe und Vergebung zu predigen, dem man gerade die Frau und die Kinder abgeschlachtet hatte. Augustinus war hochnäsig genug, damit zu drohen, daß er, falls man seine und die Autorität Roms nicht anerkannte, die Waffen der Angelsachsen segnen würde und die Britannier Vergeltung spüren würden. Tatsächlich kam ebenjener Bischof Deniol wenige Jahre später bei dem Massaker in Bangor zu Tode.
Eadulf schreckte aus seinen Betrachtungen hoch, als ein hochgewachsener Britannier in Mönchskutte an ihm vorbeilief und ihn lächelnd mit Worten begrüßte, die er nicht verstand. Ganz selbstverständlich erwiderte Eadulf sein Lächeln und grüßte ihn in der Sprache der Britannier, so gut es ging. Eadulf wollte niemandes Feind sein, doch ihm fiel auf einmal ein Sprichwort seines Volkes ein, nach dem es auch dann keine Sicherheit gäbe, wenn man sich seinen Feind zum Freund gemacht hatte. Aber gewiß war das Sprichwort falsch. Viel eher sollte man sich an die Lehren des Christentums erinnern. Was hatte Jakobus geschrieben? »Woher kommt Streit und Krieg unter euch? Kommt es nicht daher: aus euren Lüsten, die da streiten in euren Gliedern? Ihr seid begierig und erlanget es damit nicht; ihr mordet und neidet und gewinnet damit nichts; ihr streitet und kämpfet.« War das der Hauptgrund für die Kriege und das Blutvergießen der letzten zweihundert Jahre, seit die Sachsen in Britannien Fuß gefaßt hatten? Was hatte Christus gesagt? »Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet.« Nun, wenn es nach Eadulf ginge, so würde er dieses Gebot auch einhalten. Doch damit konnte er sich nicht beruhigen; seine Furcht davor, in einem fremden Land zu sein, von Leuten umgeben, die ihm nicht trauten, schwand dadurch nicht.
Einige Stunden später kehrte Fidelma zu ihm zurück und fragte ihn, ob er sich kräftig genug fühle, um sie zur Abtei Dewi Sant zu begleiten. Ihm hatte die Zeit an der frischen Luft gutgetan, und so sagte er ja.
Die große Abtei, die Dewi Sant geweiht war, lag weniger als anderthalb Meilen nordöstlich von dem kleinen Hafen. Mit gemächlichen Schritten verließen sie Porth Clais und liefen am farnbewachsenen Flußufer entlang. Fidelma erklärte, daß dieser Fluß Alun genannt wurde, war sie doch schon am Vortag hier entlanggegangen. Über diesen Weg wurden auch Fuhren von Gold transportiert, das aus Irland stammte und per Schiff bis nach Porth Clais gelangte. Dann brachte man das Gold in die Abtei, wo die Goldschmiede es zu sakralen Objekten verarbeiteten. Weiter flußaufwärts führte der Pfad durch eine Moorlandschaft, doch Fidelma bewegte sich mit unbeschwerter Leichtigkeit durch das sumpfige Gelände. Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, und obwohl sich nun ein leichter Wind erhoben hatte, war es nicht zu kalt für den Herbst. Es war eine recht angenehme Wanderung.
Schon nach kurzer Zeit kam die große Anlage der Abtei in Sicht. Eadulf mußte zugeben, daß die vielen unterschiedlichen Bauten ziemlich beeindruckend waren. Nur in Rom hatte er bisher etwas Ähnliches gesehen. Die Gebäude waren aus grauem Granit und einheimischem Holz errichtet.
Am Tor wurden sie von einem der Mönche empfangen. Es schien, als hätte er ihre Ankunft erwartet, denn er führte sie ohne Zögern direkt zu den Räumen von Abt Tryffin.
Der Abt erhob sich aus seinem Stuhl und ging auf sie zu, um sie aufs herzlichste in Fidelmas Muttersprache zu begrüßen. Offensichtlich beherrschte er die Sprache genauso gut wie Bruder Rhodri. Seine Tonsur war in der Art des heiligen Johannes gehalten; jener Haarschnitt war von den Kirchen Britanniens und Ei-reanns übernommen worden. Die Haare waren von der Stirn an abrasiert bis zur Höhe der Ohren, manche meinten, daß diese Tonsur jener der Druiden ähnlich sei, der weisen Priester aus alten keltischen Zeiten. Der Abt war etwa Ende vierzig und hatte ein hageres Gesicht, schmale Lippen und eine lange Nase, die wie mit einem Spinnennetz von winzigen roten Äderchen durchzogen war. Er lächelte, und seine Begrüßung schien aufrichtig und herzlich. In seinen dunklen Augen lag jedoch Besorgnis.
Vor einem Feuer nahmen sie Platz. Man reichte ihnen Glühwein, den Eadulf als angenehm und wohltuend empfand.
»Wie steht es um deine Gesundheit, Bruder Eadulf?« fragte der Abt, während er sich auf seinem Lehnstuhl niederließ. »Bist du von deinem Sturz an Bord des Schiffes wieder ganz genesen?«
»Ja«, bestätigte ihm Eadulf ernst.
»Ich vermute, daß ihr beide eure Reise nach Canterbury so schnell wie möglich fortsetzen wollt? Ist das so?«
»So ist es«, erwiderte Fidelma. »Sobald wir ein Schiff dorthin ausfindig machen können, natürlich.«
Gedankenverloren nickte der Abt. Dabei trommelte er mit den Fingern auf seine Stuhllehne, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es war ganz offensichtlich, daß ihn eine äußerst wichtige Angelegenheit beschäftigte und es ihm schwerfiel, darüber zu sprechen.
»Nun ...«, setzte er an.
»Nun«, fiel Fidelma ein, »es gibt da eine Sache, bei der du vermutlich unsere Hilfe brauchst.«
Überrascht schaute sie der Abt an. Seine Augen glichen auf einmal schmalen Schlitzen. »Woher weißt du das? Hat es dir jemand erzählt?«
»Man kann es dir von der Stirn ablesen«, entgegnete Fidelma.
Abt Tryffin zuckte mit den Schultern. »Das mag schon sein. Wir stehen hier wahrlich vor einem Rätsel und benötigen dringend den Rat einer Expertin, wie du es bist. Vielleicht findest du eine Erklärung dafür. Doch ehe ich etwas über die Angelegenheit verlautbaren möchte, darf ich dir eine Frage stellen, Schwester Fidelma?«
Fidelma blickte zu Eadulf und entgegnete mit trok-kenem Humor: »Nicht jede Frage verdient eine Antwort.«
Der Abt rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Da hast du wohl recht, Schwester. Ich werde dennoch fragen. Wenn ich dir einen rätselhaften Fall darlege, der dich interessiert, wärst du dann bereit, noch ein paar Tage in diesem Königreich zu bleiben und der Sache auf den Grund zu gehen?«
»Ich begleite eigentlich nur den Abgesandten des Erzbischofs Theodor von Canterbury. Du solltest die Frage lieber ihm stellen«, erwiderte Fidelma und wies auf Eadulf.
Eadulf setzte seinen Weinbecher ab und dachte nach. Es war wohl wahr, daß er sich fast ein Jahr länger als beabsichtigt in Muman aufgehalten hatte, ehe er sich entschloß, nach Canterbury zurückzukehren. Was würde es da schon ausmachen, wenn er noch ein paar Tage im Königreich von Dyfed bliebe? Wahrscheinlich würde es ohnehin eine Weile dauern, bis sie ein geeignetes Schiff fanden. Doch was mochte den Abt derart quälen, daß er sich von Fremden, ja gar von einem Angelsachsen, Aufklärung erhoffte?
Der Abt sah ihn eindringlich an, wartete mit fast unverhohlener Ungeduld auf seine Antwort. »Für eure Dienste wird man sich erkenntlich erweisen«, fügte er rasch hinzu, als hätte sich Eadulf über eine Bezahlung Gedanken gemacht.
»Warum bittest du ausgerechnet Fremde um Hilfe? In Dyfed gibt es sicher genügend kluge Köpfe, die sich mit der Angelegenheit befassen können.« Eadulfs Stimme verriet Beunruhigung.
Hinter einer Wand am Ende des Raumes bewegte sich etwas, ein großer älterer Mann trat hervor. Er hatte die Statur eines Kriegers, und trotz seines Alters hatte sein durchtrainierter Körper viel Jugendliches bewahrt. Seine lockigen weißen Haare zierte ein goldener Reif, seine eindrucksvollen Augen waren hellblau, fast violett, und ließen auf den ersten Blick keine Pupillen erkennen. Seine Kleider waren aus kostbarem Samt, Leinen und Wolle. Offensichtlich handelte es sich um eine Person von hohem Rang.