»Vielleicht solltest du uns mit dem Hintergrund des Mordgeschehens vertraut machen«, forderte sie den Abt auf und lehnte sich entspannt zurück. Das Bad hatte ihr gutgetan.
»Wie schon berichtet, fand man vor einer Woche Dabhoc in Bischof Ordgars Zimmer mit zerschmettertem Schädel auf der Erde liegen. Neben ihm lag Abt Cadfan aus dem Königreich Gwynedd; man hatte ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt, und er war bewusstlos. Außerdem war Ordgar in dem Zimmer, der sich in einem halb bewusstlosen Zustand befand.«
»In einem halb bewusstlosen Zustand?«, unterbrach ihn Eadulf. »Wie ist das zu verstehen?«
»Er behauptete, vorsätzlich betäubt worden zu sein.«
»Und wie haben Cadfan und Ordgar die Sachlage erklärt?«, fragte Fidelma.
»Ordgar behauptete, von dem ganzen Geschehen keine Ahnung gehabt zu haben. Er erklärte, er hätte wie immer als letztes an dem Abend Wein getrunken und wäre dann in einen traumlosen Schlaf gesunken. Er lässt sich nicht von seiner Meinung abbringen, dass man seinem Getränk ein Betäubungsmittel hinzugesetzt hätte. Der Arzt hat seinen Zustand bestätigt. Insofern stimmen seine Aussage und der Tatbestand überein.«
»Und Cadfan?«
»Cadfan will eine Notiz erhalten haben - leider hat er sie nicht mehr -, die ihn aufforderte, wegen einer dringenden Angelegenheit in das Zimmer von Bischof Ordgar zu kommen.« »Und wann hat man das Ganze entdeckt - dass Dabhoc tot war?«
»Weit nach Mitternacht, in jedem Fall aber vor der Morgendämmerung.«
»Wann hat Cadfan die Notiz erhalten?«
»Seiner Aussage nach lag er in seinem Zimmer und schlief, als er durch ein Pochen geweckt und ein Zettel unter die Tür geschoben wurde. Er sei dann zu Ordgars Zimmer gegangen, hätte angeklopft, und eine Stimme hätte ihn aufgefordert einzutreten. Er hätte dem Folge geleistet, und sofort hätte man ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt. Weiter habe er dann nichts mehr wahrgenommen, bis er wieder zu sich kam. Während seiner Ohnmacht habe man ihn zurück in sein Zimmer getragen. Er schwört, weder Dabhocs Leichnam noch Ordgar gesehen zu haben. Im Zimmer wäre es dunkel gewesen, als er es betreten habe.«
»Eine merkwürdige Geschichte«, stellte Fidelma fest. Abt Segdae nickte niedergeschlagen. »Und wenn sie nicht aufgeklärt wird, können wir das Konzil vergessen. Es gibt ohnehin schon genug Reibereien hier. Bei der Eröffnung des Konzils vergangene Woche wurden Ordgar und Cad-fan miteinander handgreiflich.«
»Tatsächlich?« Fidelma machte große Augen.
»Das passierte am Abend vor dem Mord«, bestätigte er.
»War Dabhoc in den Streit mit verwickelt?«
»Er hatte sich bei dem Wortwechsel als Friedensstifter eingemischt, das war aber auch alles. Andere haben das ebenfalls getan.«
»Glaubt man, Dabhoc wurde deshalb umgebracht?«, fragte Eadulf.
»Eigentlich weiß niemand, was von dem Vorfall zu halten ist. Ordgar und Cadfan sind auf ihre Zimmer verbannt, und Bischof Leodegar sinnt darüber danach, wie er sich verhalten soll. In wenigen Tagen erwartet man Chlothar, den Herrscher des Königreiches, der die Beschlüsse des Konzils absegnen will, dabei hat das Konzil im eigentlichen Sinne noch gar nicht getagt, so dass die Vorschläge aus Rom bislang nicht zur Diskussion gestanden haben.
Im Gegenteil, eher sprechen die Gäste, wie ich schon sagte, von einer Abreise und Rückkehr in ihre Länder.«
»Leodegar wird sich zu einer Entscheidung durchringen müssen«, meinte Fidelma.
»Er muss entweder einen von beiden für schuldig oder beide für unschuldig erklären«, pflichtete der Abt ihr bei. »Beide weisen jede Schuld von sich, aber zum anderen haben beide deutlich gemacht, dass sie sich buchstäblich hassen. Die gegenseitigen Vorhaltungen nehmen sich nichts in ihrer Gehässigkeit.« »Und wie stehst du selbst dazu? Du bist schließlich der ranghöchste Vertreter von Eireann.«
Mit einer vielsagenden Bewegung der Schultern brachte er seine Hilflosigkeit zum Ausdruck.
»Genau das ist mein Dilemma, Fidelma. Du weißt um die Rivalität meiner Abtei von Imleach und der von Ard Ma-cha.
In den vergangenen Jahren hat die Abtei Ard Macha darauf bestanden, dass ihr die führende Rolle über die fünf Königreiche zukommt, und sie will sich jetzt sogar über Imleach stellen - dabei existierte Imleach schon, ehe Ard Macha begründet wurde.«
»Was hat das mit deiner Haltung zu dem vorliegenden Fall zu tun?«, fragte Fidelma etwas ungeduldig.
»Wie du selbst richtig sagst, bin ich jetzt der ranghöchste Vertreter Eireanns hier. Verlange ich nicht, dass ein Schuldspruch und eine Wiedergutmachung für den Mord an Dabhoc erfolgen, kann Segene, Abt und Bischof von Ard Macha, mir und damit Imleach eine Unterlassungssünde vorwerfen, weil Dabhoc als Vertreter von Ard Ma-cha hergekommen ist. Bestehe ich aber darauf, dann fordere ich, dass Bischof Leodegar eine Entscheidung fällt, das heißt, den einen oder anderen, Ordgar oder Cadfan für schuldig erklärt. Wenn weder das eine noch das andere geschieht, geht das Konzil auseinander, und Leodegar muss sich dem Bischof von Rom gegenüber verantworten.«
»Mit anderen Worten, die Erwägung einer politischen Entscheidung lastet mehr auf dir als die moralische Entscheidung, was rechtens, was wahr ist«, fasste Fidelma seine Bedenken zusammen.
Abt Segdae lächelte müde. »Ich wünschte, ich könnte es so klar und entschieden sehen wie du, Fidelma. Du musst aber auch Folgendes bedenken: Der Konflikt zwischen Ard Macha und Imleach und der zwischen den Britanniern und Sachsen wiegen gleichermaßen schwer. Egal, wie meine Entscheidung aussieht, sie bringt neuen Ärger und Streit. Und um mich zu einer Entscheidung durchzuringen, brauche ich Rat.« Fidelma spitzte die Lippen, ohne hörbar zu pfeifen, und blickte zu Eadulf. Dem Abt hingegen ging auf, wie weit der Tag bereits vorangeschritten war, und er erhob sich. »Bischof Leodegar ist bestimmt schon ungeduldig. Wir sollten ihn nicht länger warten lassen.«
Bischof Leodegar machte es sich auf seinem Stuhl bequem und musterte Fidelma und Eadulf durchdringend. Er war schon etwas älter, das schwarze Haar zeigte graue Strähnen, und die Augen waren dunkel und unergründlich. Insgesamt wirkte er blass und schlank, die Haut war straff, der Adamsapfel auffällig vorstehend. Seine Haltung, gespannt und leicht nach vorn gebeugt, erinnerte Fidelma an einen hungrigen, zum Sprung bereiten Wolf.
»Ich heiße euch beide in der Abtei von Autun willkommen«, sagte er schließlich. Mit einem Blick zu Segdae, der zusammen mit Bruder Chilperic an einer Seite des Zimmers Platz genommen hatte, fügte er hinzu: »Abt Segdae hat mir viel von euch erzählt. Gut, dass ihr ohne Schaden genommen zu haben hier eingetroffen seid.«
Sie saßen ihm direkt gegenüber. Bruder Chilperic hatte ihnen eigens Stühle hingestellt. Bischof Leodegar überlegte kurz, ehe er fortfuhr. »Ich gehe davon aus, dass man euch davon in Kenntnis gesetzt hat, dass diese Abtei über getrennte Häuser für Männer und Frauen verfügt. Wir sind kein gemischtes Haus, wenngleich zum Morgen- und Abendgebet beide Geschlechter in der Kapelle der Abtei zusammenkommen. Wir folgen der Regel des Zölibats -im Zölibat kommen wir der Göttlichkeit näher.«
Fidelma und Eadulf schwiegen.
»Mir ist klar, dass ihr zu denen gehört, die nicht mit dieser Ordnung übereinstimmen«, nahm er seine Rede wieder auf. »Im Interesse der Dinge, die es zu klären gilt, sind wir bereit, bis zu einem gewissen Grad unsere hier geltenden Vorschriften außer Kraft zu setzen. Eine Bedingung, die ich allerdings stellen muss, ist die, dass ihr euch mit Umsicht in der Abtei bewegt.« Er machte eine Pause. Da aber weder Fidelma noch Eadulf etwas sagten, fuhr er fort: »Wie ich von Abt Segdae gehört habe, verfügt ihr beide über die Gabe, rätselhafte Geschehnisse zu entwirren und Probleme zu lösen. In der gegenwärtigen Situation sind wir auf derartige Fähigkeiten dringend angewiesen.« Fidelma fiel aus ihrer Starre. »Abt Segdae hat uns in gebotener Kürze über die Sachlage informiert«, sagte sie nüchtern.