»Selbstverständlich, das verlangt der Brauch«, erwiderte der Bischof.
»Folglich können wir uns nicht selbst ein Bild davon machen, wie die Wunde aussah, wie sie ihm beigebracht worden sein könnte, wie der Leichnam lag und dergleichen mehr.«
»Wieso wäre das nötig?«, fragte Bischof Leodegar erstaunt.
»Vielleicht nicht nötig, aber hilfreich«, warf Fidelma ein. »Wenn wir richtig unterrichtet sind, reduziert sich alles auf zwei Männer, die erbitterte Feinde sind, und es gilt herauszufinden, wer von den beiden die Wahrheit spricht.« »Beziehungsweise wer von den beiden lügt«, ergänzte Eadulf.
Bischof Leodegar kniff die Augen zusammen. »Wollt ihr sagen, dass das zu beurteilen unmöglich ist?«
»Impossibilium nulla obligatio est«, meinte Fidelma philosophisch. »Wenn ich es für unmöglich hielte, würde ich nicht einmal Zeit darauf verschwenden, mich dazu zu äußern. Wir weisen lediglich auf die Schwierigkeiten hin.« »Ihr macht euch also an die Aufgabe?«, drängte Bischof Leodegar auf eine Antwort.
»Ja«, erwiderte sie nach einer geringfügigen Pause.
Er schien erleichtert. »Es gilt als abgemacht?«
»Gewährt man uns die Freiheit, alle die zu befragen, die wir glauben befragen zu müssen? Erteilst du mir die nötige Handlungsvollmacht?«, wollte Fidelma wissen.
»Du brauchst doch nur Ordgar und Cadfan zu befragen«, wunderte sich der Bischof.
Sie schüttelte den Kopf. »Das klingt, als hättest du schon ein Vorurteil gefasst, Bischof Leodegar. So können wir nicht an das Problem herangehen - selbst wenn es den Anschein hat, es ginge nur um eine Schuldfrage zwischen den beiden. Wenn dir daran liegt, dass wir uns der Sache annehmen, dann nur unter den von mir gestellten Bedingungen, etwas anderes kommt nicht in Frage.«
Auf dem Gesicht des Bischofs ließ sich leichte Verärgerung ablesen, und Abt Segdae griff ein.
»Wir sind uns dessen bewusst, dass ihr die Dinge hier anders handhabt als wir, Bischof Leodegar«, beeilte er sich zu sagen. »Bei uns gilt ein Gesetzeswerk, das den Anwälten für ihre Nachforschungen gewisse Freiheiten zubilligt.«
Nachdenklich ruhte Bischof Leodegars Blick auf dem Abt.
»Ich habe bereits darauf verwiesen, dass ich von der geltenden Regel der Abtei abgehe und Fidelma zu Räumen Zutritt gestatte, die Frauen normalerweise verwehrt sind.« »Und ich habe zugesagt, mich umsichtig zu verhalten«, bestätigte sie. »Aber wenn ich meine Nachforschungen betreiben soll, brauche ich Handlungsfreiheit, so wie ich es von meinem Land und von der bei uns geltenden Gesetzgebung her gewöhnt bin. Andernfalls sehe ich mich außerstande, die Aufgabe zu übernehmen.«
»Umherziehende Missionare aus eurem Land haben mir von euren Gesetzen und Methoden berichtet«, sagte der Bischof nach einigem Nachdenken und gab sich einen merklichen Ruck. »Also gut. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich dir Beschränkungen auferlegen sollte. Ich gewähre dir Handlungsfreiheit.«
»Nicht nur mir, Bruder Eadulf auch«, meinte sie fröhlich. »Du darfst nicht vergessen, Eadulf ist bei seinem Volk ein gerefa, ein Anwalt für angelsächsisches Recht.«
»Das ist mir klar, sonst hätte ich nicht davon gesprochen, dass man Eadulf hinsichtlich Bischof Ordgar als unvoreingenommen betrachten würde. Die Gemeinschaft muss mit der Situation vertraut gemacht werden, damit gewinnen auch deine Erkenntnisse an Gewicht. Ich erteile dir die uneingeschränkte Erlaubnis, jeden zu befragen, soweit du es für nötig hältst. Bei der Abendandacht werde ich meine Weisung verkünden. Ich bitte dich nur, so rasch wie möglich zu einem Ergebnis zu kommen, damit wir auch die zum Konzil Angereisten zufriedenstellen können. In Kürze erwarten wir Chlothar, unseren König, der dem Konzil seine königliche Zustimmung zu geben gedenkt.
Es wäre uns allen dienlich, wenn die Dinge bis zu seiner Ankunft geklärt sein könnten.«
»Versprechen kann ich das nicht. Sicher ist nur eins im Leben - nämlich, dass wir alle eines Tages sterben«, ent-gegnete Fidelma lakonisch. »Wir werden unser Bestes tun, dem Fall auf den Grund zu gehen, aber ich kann nicht versprechen, innerhalb einer bestimmten Frist eine Lösung des Problems vorzulegen. Kannst du damit leben?« Bischof Leodegar hob schicksalsergeben die Hände.
»Am besten fangen wir gleich mit dir an. Ich hätte da ein paar Fragen.«
»Fragen an mich?« Damit hatte er nicht gerechnet.
»Ja, natürlich.« Sie blieb gelassen. Offensichtlich war es der fränkische Bischof nicht gewöhnt, Fragen gestellt zu bekommen. »Wer hat den Leichnam und die Geschehnisse in Bischof Ordgars Zimmer entdeckt?«
»Bruder Sigeric«, antwortete Bruder Chilperic für den Bischof und brach mit der Auskunft sein bisheriges Schweigen.
»Bruder Sigeric, wer ist das?«
»Einer der Schreiber.«
»Wir werden mit ihm sprechen müssen. Lässt sich das machen?«
Bruder Chilperic nickte.
»Großartig. Wie hieß der Arzt, der den Leichnam untersucht hat - und ist auch er es gewesen, der sich um die Wunde von Abt Cadfan gekümmert und sich über Bischof Ordgars Zustand vergewissert hat?«
»Unser Arzt ist Bruder Gebicca.«
Fidelma wandte sich nach dieser Auskunft wieder Bischof Leodegar zu. »Und nun hätte ich gern von dir gehört, welche Rolle du bei all dem gespielt hast.«
»Ich und welche Rolle?«, fragte er verwundert zurück. »Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Wenn ich richtig unterrichtet bin, hat man Abt Segdae geweckt und ihn gebeten, in Ordgars Zimmer zu kommen. Als er dort eintraf, warst du bereits dort. Wie erklärt sich das?« »Bruder Sigeric hat mich zuerst geweckt«, sagte der Bischof. »Er schreckte mich mit der Nachricht auf, es wäre ein Unglück geschehen und ich sollte unverzüglich dorthin kommen.«
»Wie waren die Begleitumstände, unter denen dich Bruder Sigeric geweckt hat?«
»Es wäre angebracht, die ganze Geschichte so ausführlich wie möglich darzustellen«, half Eadulf nach. »Vermutlich hattest du dich zum Schlafen in deine Gemächer zurückgezogen, oder?«
»Ich hatte mich eigentlich gleich nach dem Mitternachtsgebet zurückziehen wollen«, begann Bischof Leodegar. »Das gehört zu meinen Gepflogenheiten. Ich war an jenem Abend besonders müde, denn ich hatte zusammen mit einem Adligen aus der Stadt gespeist, der zu Gast in der Abtei war, und der hatte unserem Wein recht ausgiebig zugesprochen. Doch ich war kaum auf meinem Zimmer, da suchte mich Bischof Ordgar auf. Er hatte das Verlangen, seinen Unmut über Abt Cadfan noch weiter auszulassen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich ihn wieder loswurde. Er war über das Verhalten des Britanniers an jenem Abend sehr verärgert, und ich gab mir jede erdenkliche Mühe, ihm klarzumachen, dass allen Vertretern auf diesem Konzil ein breiter Spielraum gewährt werden müsste. Als er schließlich ging, schlief ich sofort ein und kam erst wieder zu mir, als mich Bruder Sigeric wachrüttelte. Das war noch vor der Morgendämmerung. Aber die Dunkelheit der Nacht ging schon in ein Dämmerlicht über, auch die Vögel spürten das, wurden munter und begrüßten mit ihrem ersten Gesang das nahende Licht.«
Er machte eine Pause, doch Eadulf gönnte ihm kein langes Nachsinnen. »Sprich weiter.«
»Es war, wie schon erwähnt. Bruder Sigeric drängte mich, mir etwas überzuwerfen und in Bischof Ordgars Zimmer mitzugehen. Er sagte, ein grässliches Unglück wäre geschehen.«
»Hat er näher beschrieben, um was für eine Art Unglück es sich handelte oder wie er davon erfahren hatte?«
»Zu dem Zeitpunkt nicht, erst später sagte er ...«
Fidelma unterbrach ihn mit einem Handzeichen. »Bruder Sigeric kann uns das selbst sagen, wenn wir nachher mit ihm sprechen. Bleiben wir vorerst dabei, wie im Einzelnen du dich verhalten hast.«
Bischof Leodegar zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Ich folgte Bruder Sigerics Aufforderung und ging mit ihm. Er war ziemlich erregt, so dass ich ihn nicht mit weiteren Fragen plagte. Ich betrat Ordgars Zimmer .« »Brannte dort Licht?«, warf Fidelma rasch ein.