»Hat sie nichts weiter gesagt?«
»Sie behauptete, sie könne mir nicht helfen, selbst wenn sie wollte, denn Valretrade hätte das Kloster verlassen und wäre davongelaufen.«
»Davongelaufen? Ist dir irgendein Grund bekannt, der sie dazu hätte veranlassen können?«
Er litt sichtlich. »Nie hätte sie so etwas getan, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen.«
»Sie hat versucht, mit dir Verbindung aufzunehmen, und du bist nicht erschienen.«
Er ließ den Kopf hängen, fast klang es, als schluchzte er. »In jeder noch so verzweifelten Lage hätte sie gewartet. Ich kenne sie. Sie hätte mir ein Zeichen gegeben, mir eine Nachricht geschickt.«
Fidelma beugte sich vor und klopfte dem jungen Mann tröstend auf die Schulter.
»Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um in deinem Interesse etwas herauszufinden, Sigeric. Wir werden mit Äbtissin Audofleda sprechen, und sollte es da rätselhafte Dinge geben, werden wir sie ergründen. Quäl dich nicht weiter ...«
Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber die Tür ging auf, und Bruder Chilperic trat ein.
»Ich habe den Bischof informiert«, erklärte er ohne jede Vorrede. »Er erwartet das Ergebnis eurer Untersuchungen, sobald ihr so weit seid.«
»Hier sind wir jedenfalls fertig«, entgegnete Fidelma und begab sich zur Tür. Bevor sie ging, verabschiedete sie sich von Bruder Sigeric mit einem freundlichen Lächeln. »Vielen Dank für dein Entgegenkommen, Bruder. Wir werden es nicht vergessen; wir sehen uns gewiss wieder.« Mit einem schwachen Hoffnungsschimmer auf dem Gesicht erwiderte er ihren Gruß.
»Müsst ihr noch mal einen Blick in Ordgars Zimmer werfen, oder kann ich veranlassen, dass es in Ordnung gebracht und saubergemacht wird?«, fragte Bruder Chilperic.
»Für uns ist die Sache erledigt. Du könntest uns aber sagen, wo wir Abt Cadfan finden.«
»Der ist im dritten Stock untergebracht. Ihr erinnert euch, wo ich euch das Gemach von Bischof Ordgar gezeigt habe? Gut. Auf eben dem Gang nach rechts, von da geht ein kleinerer Gang ab, und dort findet ihr Abt Cadfan.«
»Also beide im dritten Stock. Dann werden wir erst mit Bischof Ordgar sprechen und danach mit Abt Cadfan. Dorthin zu gelangen ist kein Problem, wir kommen ohne deine Hilfe zurecht.«
Bruder Chilperic fühlte sich abgewiesen und blieb zögernd stehen, aber Fidelma und Eadulf entfernten sich bereits mit zügigem Schritt. Er zuckte die Achseln und ging ebenfalls.
KAPITEL 5
Bischof Ordgar stand nicht auf, als Fidelma und Eadulf sein Zimmer betraten, sondern blieb entschlossen sitzen. Sein finsteres Gesicht und düsterer Blick ließen auf einen wenig verbindlichen, eher abweisenden Charakter schließen. Hinter ihm stand ein junger Mann mit schwarzgelocktem Haar, der ihnen mit blassblauen Augen entgegensah. Er trat einen Schritt vor, wie um sie zu begrüßen, hielt dann aber inne und warf einen unschlüssigen Blick auf den sitzenden Bischof. Verlegen leckte er sich die Lippen.
»Du bist Bruder Eadulf aus Seaxmund’s Ham?«, sprach der junge Mann Eadulf an. »Du bist der gerefa, von dem uns Bischof Leodegar berichtet hat?«
»Der bin ich, ja«, bestätigte Eadulf und tat es auf Angelsächsisch, denn die Frage war in eben der Sprache gestellt worden, wenngleich der Akzent darauf hindeutete, dass man sich ihrer als Fremdsprache bedient hatte. »Das neben mir ist Fidelma von Cashel, Schwester von König Colgü, dem König von Muman - Anwältin bei den Gerichten der fünf Königreiche von Eireann - und meine Frau.«
Eadulf war sich darüber im Klaren, dass Fidelma es nicht mochte, in derart hochtrabender Art vorgestellt zu werden, aber nach allem, was er über Bischof Ordgar gehört hatte, hielt er es für angebracht, ihm von Anfang an mit Entschiedenheit zu begegnen. Ihm waren genügend Geschichten über dessen Arroganz zu Ohren gekommen, und wenn man ihm nicht gleich bei der ersten Begegnung zu erkennen gab, mit wem er es zu tun hatte, würden sie kaum eine vernünftige Befragung mit ihm zuwege bringen. Unbeirrt hielt er dem luchsähnlichen Blick des Bischofs stand.
»Mir hatte man gesagt, der Name von der Frau da wäre Schwester Fidelma«, polterte der los und verzog spöttisch den Mund.
»Der Glaube verbindet Menschen unterschiedlichster Herkunft«, erklärte Eadulf gleichmütig, »aber du hast natürlich recht. Alle, die dem Glauben dienen, sind gleich, einer wie der andere, egal ob Bischof oder Abt. Und >die Frau<, wie du sie zu nennen beliebst, ist meine Ehefrau.«
Wieder wählte er seine Worte mit Bedacht und gezielter Betonung, damit ihn der Bischof auch ja nicht falsch verstünde. Dann wandte er sich dem jungen Mann zu, der sie hatte begrüßen wollen. »Und wer bist du?«
»Ich bin Bruder Benevolentia, Kämmerer meines Herrn, Bischof Ordgar.«
»Du bist aber kein Angelsachse?«
»Das stimmt, Bruder, ich bin Burgunde.«
Fidelma hatte Schwierigkeiten, der Unterhaltung zu folgen. Zwar verfügte sie über Grundkenntnisse des Angelsächsischen, aber wenn es um Mehrdeutigkeiten oder anspruchsvollere Themen ging, fühlte sie sich in der Sprache nicht zu Hause.
»Können wir nicht auf Latein miteinander reden?«, fragte sie.
Sowohl der Bischof als auch Bruder Benevolentia blickten überrascht auf und reagierten mit bloßem Achselzucken. Fidelma nahm es als Zustimmung.
»Gut. Wir brauchen eindeutige Antworten auf etliche Fragen.«
»Ich denke, Bruder Eadulf ist derjenige, der mich vertritt«, bemerkte Bischof Ordgar. »Dir ist doch wohl bekannt, dass ich einen Rang von Bedeutung habe? Schließlich bin ich im Auftrag von Theodor, dem Erzbischof von Canterbury, hier. Sowie das Konzil beendet ist, reise ich weiter nach Rom zur Beratung mit Seiner Heiligkeit Vitalianus.«
»Ich fürchte, du bist über meine Rolle hier ungenau unterrichtet«, sagte Eadulf.
»Es heißt doch aber, du kommst aus dem Königreich der Ostangeln und bist ein gerefa«, mischte sich Bruder Benevolentia ein. »Mein Herr, Bischof Ordgar, ist natürlich davon ausgegangen, dass du im vorliegenden Fall bereit wärst, einen Stammesgenossen zu verteidigen.«
Fast hätte ein derart selbstgefälliger Gedanke Eadulf ein Schmunzeln entlockt.
»Bischof Leodegar hat Schwester Fidelma und mich gebeten, den näheren Umständen des Todes von Abt Dabhoc nachzugehen und ihm unsere Ergebnisse mitzuteilen. Das ist alles. Es ist keine Rede davon, für die Interessen des einen oder anderen einzustehen. Einzig und allein der Tote und seine Interessen stehen zur Debatte, nämlich herauszufinden, wer ihn getötet hat.«
Bischof Ordgar sah nicht gerade glücklich aus.
»Dann bleibt mir nur zu hoffen, dass du deiner Verantwortung deinem Volk gegenüber eingedenk bist«, erklärte er barsch. »Wie ich höre, lebst du schon viele Jahre unter den Menschen auf der westlichen Insel. Ich vertraue darauf, dass du nicht vergessen hast, wo Treue und Pflichterfüllung liegen.«
»Meine Pflichterfüllung gegenüber meinem Volk dient der Wahrheitsfindung - egal, was sich als Wahrheit herausstellt«, gab Eadulf in ähnlich scharfem Ton zurück. »Und solange wir keine Antworten von dir erhalten, Ord-gar aus Kent, werden wir die Wahrheit auch nicht zutage fördern.«
»Du vergisst, mit wem du sprichst, Bruder.« Bruder Be-nevolentia war über Eadulfs Redeweise entsetzt.
»Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich mit dem Zeugen eines Mordes spreche. Wir sind hier, um Fragen beantwortet zu bekommen. Können wir uns endlich dieser Aufgabe zuwenden? Auch sollten wir wieder zur lateinischen Sprache zurückkehren.« In dem heftigen Wortwechsel waren sie erneut ins Angelsächsische verfallen.