»Es handelte sich um keine ernstzunehmende Erörterung. Es war lediglich eine Zusammenkunft der Delegierten vor dem eigentlichen Beginn der Arbeitssitzungen. Auf der hatte ich einen Streit mit Cadfan, dem Britannier«, erklärte der Bischof.
»Du hast also keine Ahnung, was Abt Dabhoc mitten in der Nacht zu deinem Zimmer geführt haben könnte?« »Beim besten Willen nicht. Es sei denn, er ist von dem Welschen, der ihn umgebracht hat, dazu verleitet worden, um letztlich die Schuld auf mich schieben zu können. Ich vermute so etwas.«
»Gegen Abt Cadfan hegst du offensichtlich regelrechten Unwillen.«
»Diese Welschen sind alle gleich. Hassen meine Blutsbrüder, sind meine Feinde. Jammern nur herum und sind obendrein undankbar.«
»Dass sie sich so verhalten, ist doch wohl verständlich, oder nicht?«, merkte Fidelma an.
Mit einer jähen Kopfbewegung und wütendem Blick wandte er sich Fidelma zu. »Wie meinst du das?«
»So lange ist es noch gar nicht her, dass deine Stammesbrüder übers Meer kamen und mit der Vertreibung der Britannier begannen, die ihr >Fremdländische<, in eurer Sprache >die Welschen<, nennt. Ihr habt ihnen das Land, ihre Dörfer und Gehöfte genommen und euch selbst dort festgesetzt. Auch heute noch treibt ihr sie immer weiter nach Westen. Könnt ihr da Dankbarkeit und Freundlichkeit von ihnen erwarten?«
Bischof Ordgar spitzte verächtlich den Mund. »Gott wies uns den Weg zur Insel der Britannier und gab sie uns, sie zu besiedeln und zu bewohnen.«
«Sie war aber bereits bewohnt.«
»Aber nur von Schafen. Gott hätte nicht die welschen Schafe geschaffen, wenn er nicht gewollt hätte, dass man sie auch schert.«
»So leicht haben sie sich nicht scheren lassen. Sie kämpfen immer noch um das Land, das ihnen gehört«, gab Fidelma zu bedenken. Man merkte ihr an, dass sie keinerlei Sympathie für den Bischof empfand. »Wenn es Gott war, der deinem Volk den Weg gewiesen hat, Ordgar von Kent, dann erschien er ihm in merkwürdiger Verkleidung ... Damals waren es Wodan, Tius, Donar und Freya, die ihr verehrtet. Ich kenne eure Götter sehr wohl, denn viele deines Volkes verehren sie auch heute noch. Vor ein oder zwei Generationen war Christus den Angeln und Sachsen ein völlig Unbekannter, erst die Missionare meines Volkes haben euch von euren Götzen abgebracht. Berufe dich nicht auf Gott oder Christus, um zu rechtfertigen, dass ihr auch heute noch die christlichen Britannier verfolgt und sie ihres Hab und Guts beraubt.«
Bischof Ordgar schluckte. Er suchte nach einer passenden Entgegnung, aber Fidelma hatte sich bereits Eadulf zugewandt. Aus Gründen der Höflichkeit blieb sie auch ihm gegenüber beim Latein: »Wir müssen weder Bischof Ord-gar noch Bruder Benevolentia weiter die Zeit stehlen . fürs Erste jedenfalls nicht.«
Eadulf war verwirrt. Gedanklich war er noch mit dem beschäftigt, was Fidelma da eben gesagt hatte, hatte er doch selbst bis in seine Jugendjahre hinein Wodan verehrt und war dann von umherziehenden Missionaren aus Hibernia zum Neuen Glauben bekehrt worden. Aus seinen Betrachtungen aufgeschreckt, begriff er, dass Fidelma bereits zur Tür ging, und sagte rasch zum Bischof: »Wir belassen es zunächst dabei.«
»Halt!«, schallte es hinter ihm, als er Fidelma folgen wollte. »Ich wünsche, auf der Stelle von den unverschämten Beschuldigungen entlastet zu werden! Wann gestattet man mir, wieder meinen Sitz im Konzil einzunehmen?« Fidelma drehte sich im Türrahmen um und antwortete ihm: »Sowie wir unsere Befragungen abgeschlossen haben, Bischof Ordgar aus Kent. Du wirst davon erfahren, wenn es so weit ist, keine Bange.«
Im Eilschritt strebte sie dem Ende des Ganges entgegen und blieb dort an einem Fenster stehen. Es ging auf einen kleinen Innenhof mit einem Blumengärtchen und einem plätschernden Springbrunnen hinaus. Sie lehnte sich über den Fenstersims und atmete tief die frische Luft ein. »Entschuldige, Eadulf.« Sie spürte, dass er hinter ihr stand, und ahnte seinen vorwurfsvollen Blick. »Dieser Mann mit seiner Arroganz hat mich rasend gemacht. Ich hätte mich nicht so unbeherrscht über deine Landsleute und was sie angerichtet haben auslassen dürfen.«
»Ich bin mir ihrer Fehler durchaus bewusst«, erwiderte er. »Es gibt kein Volk auf dieser Erde, das nur über Tugenden verfügt. Unsere Geschichtenerzähler berichten zum Beispiel, dass auch unsere Vorväter von feindlichen Stämmen aus ihrem Land vertrieben wurden und dass sie deshalb über das Wasser nach Britannien setzten und die ursprünglichen Bewohner dort bekämpften, um selbst siedeln zu können.«
»Mag ja gut für deine Landsleute gewesen sein, aber hart für die Britannier, denen man alles nahm.«
Eadulf versuchte das Thema zu wechseln. »Glaubst du, Bischof Ordgar ist der Täter?«
»Die Geschichte, die er vorbringt, ist weiß Gott schwach. Wiederum könnte gerade in ihrer Schwäche die Wahrheit liegen. Vor allen Dingen aber ist es eine zu lächerliche Geschichte, um sie sich eigens zurechtzulegen.«
»Und Bruder Benevolentia, der junge Mann?«
»Der schaut voller Ehrfurcht auf zu Bischof Ordgar und tut, was sein Herr und Meister sagt.« Fidelma löste sich vom Fenstersims und machte Anstalten zu gehen. »Wir haben ja gerade erst angefangen, und es ist noch früh am Tage«, meinte sie aufmunternd, als sie Eadulfs düsteren Gesichtsausdruck sah.
Bruder Chilperics Wegerläuterungen zu folgen, bereitete ihnen keine Schwierigkeiten.
Als sie auf Abt Cadfans »Herein« dessen Zimmer betraten, kam er ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen und schüttelte zuerst Fidelma und dann Eadulf die Hand. Er war ein kleiner Mann mit dunklem Haar. Seinen fast schwarzen Augen schienen die Pupillen zu fehlen, denn ihre Farbgebung hob sich nicht von der der Iris ab.
»Ich kenne dich, Fidelma von Cashel«, begann er lebhaft. »Ich war am Hofe Gwlyddiens von Dyfed, als ihr beide, du und Bruder Eadulf, dort hinkamt und die rätselhaften Vorgänge um Pen Caer erhelltet. Ich bin froh, dass du hier bist. Wenn irgendjemand die Dinge hier klären kann, dann bist du es.«
»Pen Caer liegt lange zurück«, wehrte sie lächelnd ab.
»Ich kann nur hoffen, dass es uns gelingt, deine Erwartungen nicht zu enttäuschen.«
»Was im Königreich von Dyfed geschah, ist bei festlichen Zusammenkünften sogar im nördlichen Königreich von Gwynedd oft genug in aller Munde gewesen. Aber kommt, setzt euch. Darf ich euch eine Erfrischung anbieten?«
Es war gewiss ein freundlicherer Empfang als bei Bischof Ordgar. Sie nahmen Platz und ließen sich den kühlen, erfrischenden Weißwein munden.
»Ich weiß, dass mich Ordgar beschuldigt, den armen Abt Dabhoc umgebracht zu haben«, ging Cadfan zum eigentlichen Anliegen ihres Besuches über. »Stellt also eure Fragen, und ich werde sie, so gut ich kann, beantworten.« Fidelma war von der selbstverständlichen und offenen Art des Mannes angetan. Auch entsann sie sich, dass die Bri-tannier ein Gesetzessystem hatten, das dem der Brehons ähnelte. Das Amt des Barnwr in Britannien entsprach dem des Brehon in Eireann.
»Beginnen wir am besten damit, wann du Bischof Ordgar zum ersten Mal begegnet bist. Zu fragen, ob er dir sympa-tisch war oder nicht, ist wohl müßig.«
Die Bemerkung erheiterte Cadfan.
»Dass er mir >unsympathisch< war, wäre noch untertrieben.« Er überlegte. »Aber das bringt uns hier nicht weiter. Trotzdem, was wahr ist, muss wahr bleiben. Läge er am Wegesrand und bedürfte der Hilfe, würde ich es schwerlich übers Herz bringen, den guten Samariter zu spielen. Vielleicht fehlt mir der tiefe Glaube an Christus. Doch um auf deine Frage zurückzukommen: Bis zu meiner Ankunft hier in Autun hatte ich nicht die geringste Ahnung von der Existenz dieses Mannes. Vor dem Beratungsraum des Konzils sind wir uns zum ersten Mal begegnet, und ich erzählte ihm, dass ich auf der Zusammenkunft zu Beginn den Vorschlag unterbreiten würde, die angelsächsischen Königreiche wegen ihrer mutwilligen Zerstörung von Benchoer zu rügen.«