»Habt ihr mit allen, die ihr zu sehen wünschtet, sprechen können?«, fragte Abt Segdae unbekümmert und reichte Fidelma eine Fleischplatte.
»Bisher haben wir mit Ordgar, Cadfan und Sigeric gesprochen«, erwiderte sie.
»Und? Gibt es schon Erkenntnisse?«
»Du kennst meine Verfahrensweise, Segdae. Wir haben noch nicht mit allen, die wir befragen müssen, reden können.« Ihre Antwort machte ihn nicht eben glücklich. »Es wäre gut, wenn wir so rasch wie möglich Klarheit in der leidigen Angelegenheit haben könnten.«
»Ja, das wäre gut. Nur sind wir leider keine Hellseher.
Wir werden jedoch unser Bestes tun, den Schuldigen zu finden.« Für kurze Zeit musste der Abt sein Augenmerk darauf richten, sich zu einer Portion Gemüse zu verhelfen. Erst nachdem das geglückt war, konnte er weitersprechen: »Bischof Leodegar liegt mir ständig damit in den Ohren, dass schon in wenigen Tagen König Chlothar erwartet wird.«
»Bischof Leodegar soll an Chlothars Hof aufgewachsen sein, habe ich irgendwoher gehört«, bemerkte Fidelma, war aber nicht ganz bei der Sache, denn ein junger Mann am Ende des Tisches schaute ständig zu ihr hinüber. Doch immer, wenn auch sie zu ihm sah, wandte er seinen Blick ab und war angelegentlich mit seinem Teller beschäftigt. Sie versuchte, sich des Namens zu entsinnen, den Segdae bei seiner Vorstellung genannt hatte. Einer aus dem Norden? Ach ja, Bruder Gillucan!
»Chlothar ist noch jung, er soll schon der dritte König sein, der so heißt«, erläuterte der Abt. »Leodegar muss also von einem seiner Vorgänger aufgezogen worden sein. Dieser Chlothar hier ist erst zwanzig Jahre alt; er war acht, als er seinem Vater Chlodwig auf den Thron folgte.« Überrascht drehte sich Fidelma zu ihm um. »Zehn, sagst du? Das ist doch weit unter der Volljährigkeit!« »Das ist hier so Sitte. Der älteste Sohn folgt dem Vater, und wenn er noch minderjährig ist, wird ein Vormund ernannt, der an seiner statt regiert.«
»Eine merkwürdige und unsichere Art, die Geschicke eines Landes zu lenken«, urteilte sie.
»Chlothar dürfte ziemlich bald hier eintreffen, um die Beschlüsse und Empfehlungen des Konzils in aller Form zu bestätigen. Der päpstliche Gesandte ist bereits eingetroffen. Er sitzt neben Leodegar. Dort, siehst du ihn?«
Fidelma warf einen Blick über die Schulter, aber die vielen Klosterbrüder versperrten ihr die Sicht, so dass sie keinen rechten Eindruck von der Erscheinung des Mannes gewann. »Ja und?«, fragte sie und hielt Eadulf ihren Becher hin, damit er ihr aus dem Krug Wasser einschenkte. »Leodegar lässt keine Gelegenheit aus, mir klarzumachen, dass dem Konzil die Hände gebunden sind, solange das Problem nicht vom Tisch ist«, klagte Segdae. »Wie soll der König die Beschlüsse des Konzils öffentlich absegnen, wenn nicht noch vor seinem Eintreffen der rätselhafte Vorfall geklärt ist?« Fidelma ließ sich nicht erschüttern. »Ich vermute, Leodegar hat längst entschieden, welche Beschlüsse das Konzil zu fassen hat, umso mehr, als über dessen Zusammensetzung in Rom befunden wurde, und Rom hat bekanntlich wenig für unsere Sitten und Praktiken übrig. Wir können nur hoffen, dass für ihn auch nicht schon beschlossene Sache ist, wer den Mord begangen hat.«
»Du siehst die Dinge wie immer vollkommen klar, Fidelma«, gestand ihr der Abt zu. »Wenn der Bischof von Rom ein Konzil anweist, einen Beschluss zu fassen, und bereits darauf hinlenkt, wie der auszusehen hat, dann würde ich meinen, dass es sich um eine vorgefasste Entscheidung handelt. Mir missfällt das zwar, aber ich fürchte, wir sind nur hier, um einer bereits in Rom gefällten Entscheidung unser Ja und Amen zu geben.«
Fidelma wich seinem Blick nicht aus. »Wenn ich so dächte und dank meiner Position Stimmgewalt im Konzil hätte, würde ich diese Stimme nicht nutzen. Ich würde sogar meine Teilnahme verweigern.«
»Du hast recht. Wir sind hier nur geladen, um unsere Gegenstimme zu Protokoll zu geben, wenn der Beschluss verkündet wird«, bestätigte er bedrückt. »Dir ist gewiss aufgefallen, dass wir, die wir der Kirche von Ailbe, Patrick und Colmcille folgen, in der Minderheit sind.«
»Wenn Rom eine solche Richtung einschlägt, warum sollen wir da mitmachen?«, fragte Fidelma. »Die Kirchen im Osten haben es nicht getan.«
Abt Segdae hörte das nicht gern.
»Vorsichtig, Fidelma, man könnte dich der Ketzerei beschuldigen. Rom muss für uns der Mittelpunkt bleiben. War es nicht der große Apostel Petrus, der Rom als den Platz auserwählte, wo die Kirche Christi begründet werden sollte? War es nicht Christus, der ihm verhieß, er wäre der Mann, der Seine Kirche begründen würde?«
»Weshalb soll man sich mit Rom anlegen?«, mischte sich Eadulf in ihr Gespräch ein. »Weshalb nicht einfach das Dictum von dort akzeptieren und sich das Leben weniger schwer machen?«
»Rom bleibt unser Hüter, auch wenn es sich irrt, Eadulf«, wandte sich Abt Segdae ihm mit besorgter Miene zu.
»Wir folgen den ursprünglichen Vorstellungen der Gründungsväter des Glaubens, den Gepflogenheiten und Bräuchen, den festgelegten Feiertagen. Nicht wir haben uns verändert, sondern Rom hat sich verändert. Dort hat man begonnen, andere Wege zu gehen.«
»Aber ist es nicht genau das, was die Kirchen im Osten für sich beanspruchen? Sie sagen doch, dass ihre Kirchen dort den orthodoxen Gepflogenheiten folgen, die Rom ablehnt.«
»Die Spaltung beruht auf politischen Erwägungen, nicht auf theologischen.«
»Wie das?«, wollte Eadulf wissen.
»Die Abspaltung der Kirchen im Osten ging mit dem Auseinanderbrechen des Römischen Reiches einher, als Kaiser Konstantin Byzanz zur Hauptstadt erklärte und es nach sich selbst Konstantinopel nannte. Die Trennung zwischen Rom und Konstantinopel führte dazu, dass auch die Ost- und die Westkirchen auseinanderdrifteten.« Fidelma nickte bestätigend. »Nicht anders geschieht es heute. Die neuen Vorstellungen aus Rom machen es uns im Westen schwer, den Glauben zu verinnerlichen. Rom hat die Lehren des Pelagius verworfen, hat Arius in die Verbannung getrieben, und nun hadert es mit dem Mono-theletismus. Eines Tages werden die Befürworter der Trennung der Geschlechter und des Zölibats die Oberhand gewinnen, und dann dürften ihre Ansichten als die Lehre von Rom verkündet werden. Mir ist bange, wohin Roms ständiges Verändern des Glaubens und seines Brauchtums führen wird. Nicht lange, und wir erkennen überhaupt keine Verbindung mehr zu den ursprünglichen Vorstellungen der Begründer des Glaubens.«
»Ich hätte nie gedacht, dass du dir so tiefgründige Gedanken über die Dinge machst, Fidelma«, bekannte der Abt ehrlich verwundert.
»Man muss seine Gedanken nicht unbedingt für jedermann sichtbar zur Schau tragen, Segdae«, erwiderte sie. »Das heißt deshalb noch lange nicht, dass man sich keine macht. Meiner Meinung nach muss es jedem Einzelnen überlassen bleiben, ob er sich dem Glauben zuwendet oder ihn ablehnt. Niemand hat das Recht, einem anderen vorzuschreiben, was er zu glauben hat oder in welcher Form er das tut. Was mein Wirken für das öffentliche Wohl betrifft, so dient es dem Gesetz, gilt der Wahrheit und Gerechtigkeit.«
Eadulf hüstelte und erreichte damit, dass Fidelma aufschaute.
Die meisten der Klosterbrüder verließen den Saal. »Du wirst es uns nicht verübeln, Segdae, aber wir müssen uns wieder an die Arbeit machen«, sagte sie und stand auf.
Draußen fragte Eadulf sie leicht beunruhigt: »Ist es klug, so offen daherzureden?«
»Vielleicht nicht«, gab sie zu. »Aber was ich denke und was mich bewegt, kann ich nicht gänzlich zurückhalten. Es widerspricht meinem Wesen.«
»Nur scheint mir dieser Ort hier der allerletzte, um sich offen über Dogmen der Theologie zu äußern.«
Sie sah ihn an und musste lachen. Eadulf wollte sich dagegen verwahren, doch schon besänftigte sie ihn: »Ich lache nicht über dich, Eadulf. Es ist nur der Gedanke, dass die große Abtei hier mit ihrem Konzil über die Zukunft der Kirchen nicht der rechte Ort für einen Meinungsstreit sein sollte. Wenn nicht hier, wo sonst?«