»Dennoch muss ich mir die Erlaubnis von Bischof Leodegar einholen«, sagte der Mann halsstarrig.
Fidelma hatte zu ihrem Frohsinn zurückgefunden. »Dann können wir heute nichts weiter machen.« An Eadulf gewandt, meinte sie: »Da wir nun einmal hier sind, könnten wir uns doch ein wenig in der Stadt umschauen.«
Dem stimmte Eadulf zu, aber Bruder Chilperic war bestürzt. »Ihr habt doch wohl nicht vor, euch außerhalb der Abtei zu bewegen?«, fragte er.
Fidelma runzelte die Brauen. »Spricht etwa auch dagegen etwas?«
Der Mönch fuchtelte hilflos mit den Händen. »Der Bischof hat keinerlei Anweisungen hinterlassen.«
»Weshalb sollte er auch?«
»Weil die allgemeine Regel gilt, niemand verlässt die Abtei ohne Erlaubnis des Bischofs. Wenn die Gäste Fremde sind wie ihr, brauchen sie jemand, der sie begleitet. Damit wollen wir unseren Delegierten Schutz gewähren.« »Derartige Regeln dürften kaum auf uns zutreffen. Steht es denn nicht allen Delegierten frei, zu kommen und zu gehen, wann sie wollen? Schließlich hat sich auch niemand um unsere Sicherheit gekümmert, bevor wir die Abtei betraten.« »Ich habe mich an die vom Bischof aufgestellten Vorschriften zu halten.«
Das erstaunte Fidelma; sie sah das nicht ein und machte ihrer Verärgerung Luft.
»Andere Weisungen habe ich nicht«, brummelte Bruder Chilperic.
»Ist es uns wenigstens gestattet, ohne Begleitung unser Gemach aufzusuchen?», fragte sie spitz.
Der junge Mann verzog das Gesicht, war deutlich hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht gegenüber dem Bischof und ihrem Unmut. Doch Fidelma hatte sich bereits umgedreht, presste die Lippen zusammen und ließ ihn stehen. Eadulf folgte ihr nach kurzem Überlegen. Er hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, während sie wütend davoneilte und ihre Tritte auf das Pflaster knallten.
»Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mir Beschränkungen auferlegt«, sagte sie schließlich und mäßigte ihr Tempo. »Dem jungen Mönch können wir wohl keine Schuld geben«, meinte Eadulf. »Er scheut sich, Entscheidungen zu treffen, die seinem Bischof missfallen könnten.«
»Natürlich, ihn trifft keine Schuld. Es liegt an dem Bischof. Der versucht alle hier am Gängelband zu halten und will wissen, was sie tun und lassen. Ich frage mich, wovor fürchtet der sich?«
»Vermutlich sind die Leute hier so daran gewöhnt, dass Leodegar Regeln aufstellt und gewaltsam durchsetzt, dass sich keiner mehr traut, selber zu denken«, suchte Eadulf zu erklären.
Fidelma blieb unvermittelt stehen. »Bitte, Eadulf, geh und suche Abt Segdae. Ich bin sicher, er ist der Mann, der sich nicht den Zwängen dieser Abtei unterwirft. Er möchte uns erlauben, zu gehen und zu kommen, wann es uns beliebt, oder uns unterstützen, falls man uns das verwehrt.«
Eadulf zögerte, zuckte die Achseln und ging. Fidelma rief ihm hinterher: »Ich warte auf dich im Gästehaus.« Ohne zurückzublicken hob er die Hand zum Einverständnis.
In Gedanken versunken, schritt Fidelma zum hospitia. Sie hoffte, Bischof Leodegar würde ihr nicht eine Erklärung abnötigen, weshalb sie das domus feminarum aufsuchen wollte.
Sie musste sich vergewissern, ob Bruder Sigerics Bericht irgendwie mit den Ereignissen um Abt Dabhocs Tod in Zusammenhang stand. Von der strikten Trennung, die Bischof Leodegar seinen Klosterleuten auferlegt hatte, fühlte sie sich in ihrer Arbeit arg behindert. Dankbar empfand sie die Regeln und Gebräuche ihrer Heimat als vernünftig und die Menschen nicht einengend.
Fidelma betrat das für sie hergerichtete Gästezimmer, doch als sie die Tür schloss, bewegte sich hinter ihr etwas. Ihr schlug das Herz bis zum Hals; mit einem Ruck drehte sie sich um und sah im Halbdunkel schattenhaft einen Mann. »Wer bist du?«, fragte sie und suchte ihre Erregung zu unterdrücken.
»Ich wollte dich nicht erschrecken, Schwester«, hörte sie die Stimme eines aufgeregten jungen Mannes in der ihr vertrauten Sprache Eireanns. Das ist der junge Mönch, der vom Ende der Tafel im Refektorium zu mir herübergeschaut hatte, sagte sie sich. »Du bist Bruder Gillucan, nicht wahr?«
»Ich bin ... ich war ... Abt Dabhocs Kämmerer und Begleiter auf dieser Pilgerreise.«
Fidelma ging durch den Raum, ließ sich auf der Bettkante nieder und winkte ihm, sich den Stuhl zu nehmen. »Du hast eine weiß Gott seltsame Art, Bruder Gillucan, dich vorzustellen.«
Er setzte sich und sagte leise: »Überall in dieser Abtei hat man das Gefühl, beobachtet zu werden. Da muss man auf der Hut sein.«
»Warum sollten sie dich beobachten?«
Der junge Mann erschauderte. »Ich weiß nicht. Ich möchte zurück nach Hause.«
»Du stammst aus Ulaidh?«
»Ich gehöre zu den Ui Nadsluaig, diene aber in der Abtei Tulach Oc.«
»Und hier fühlst du dich beklommen?«
Er machte fahrige Bewegungen mit den Händen, die Fidelma nicht recht zu deuten wusste. »Auf dem Ganzen hier lastet ein Fluch. Seelen stöhnen in Qualen ... Ich habe sie gehört.« Er seufzte tief. »Etwas in dieser Abtei ist von Übel. Wirklich, Schwester, ich habe Angst.«
Sie hob verwundert die Augenbrauen. »Du bist erregt, Bruder Gillucan. Erzähl mir, was dich bedrückt.«
»Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll.«
»Am besten von Beginn an«, redete sie ihm zu. »Du bist. oder warst Kämmerer des Abts von Tulach Oc?« Er nickte. »Ja. Ich habe Abt Dabhoc fünf Jahre lang als Ers ter Schreiber und Kämmerer gedient.«
»Und deshalb hat er dich gewählt, ihn zu diesem Konzil zu begleiten?«
»Genau so war es. Es ist eine große Ehre, ausgewählt zu werden, eine so weite Reise zu unternehmen und an einem wichtigen Konzil wie dem hier teilzunehmen. Wir sind im Auftrage von Segene, dem Bischof von Ard Macha, gekommen.« »Das habe ich mir gedacht. Und seit wann seid ihr hier?« »Vor zehn Tagen haben wir die Abtei erreicht. Wenige Tage danach, als die entscheidenden Gäste eingetroffen waren, hat der Bischof von Autun eine Vorbesprechung abgehalten. Allerdings wurden dazu nur die Hauptdelegierten geladen. Die Schreiber und Ratgeber schloss man aus. So war ich nicht Zeuge des Streits, von dem ich erst hinterher erfuhr.« »Eines Streits?«
»Als Abt Dabhoc von der Versammlung kam, war er ganz unglücklich. Er erzählte mir, Abt Cadfan von Gwynedd und Bischof Ordgar von Kent seien aneinandergeraten. Es sei sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen ihnen gekommen. Er hatte Sorge, man würde keinerlei Einigung erzielen, wenn die beiden auf ihrem Standpunkt beharrten.« Fidelma runzelte die Stirn. »Er hat dir eingehend geschildert, was vorgefallen war?«
»Ich war auch sein anam chara, sein Seelenfreund.« Zu dem in den fünf Königreichen gelebten Neuen Glauben gehörte es, dass jeder einen anam chara hatte, mit dem er seine Probleme besprechen konnte. Das war ein alter Brauch aus den Zeiten, als man noch der alten Religion anhing. Überall sonst in der Christenheit mussten die Leute öffentlich oder insgeheim den Priestern beichten und die ihnen auferlegte Buße tun. Bei einem Seelenfreund war das anders. Mit ihm diskutierte man und beriet sich, wenn man in Glaubensfragen in Zwiespalt geriet. Schuldbekenntnisse gab es nicht gegenüber einem anam chara, auch keine Bußgebote. Mit ihm konnte man sich einfach über alles aussprechen, was einen bewegte.
»Du hast eben gestanden, du hast Angst. Wovor? Sind diese Zwistigkeiten der Grund?«
Der junge Mann schien zu überlegen, was er antworten sollte. »Nein, das eigentlich nicht. Lass mich bitte fortfahren. An dem Abend nach der ersten Zusammenkunft war Abt Dabhoc tief besorgt. Er wollte am nächsten Morgen Bischof Leodegar aufsuchen und mit ihm über die entstandene Situation reden. Doch den nächsten Morgen erlebte er nicht mehr, man hatte ihn in Ordgars Gemach umgebracht.« Innerlich aufgewühlt hielt er inne.