»Du meinst also, er war zu Bischof Ordgar gegangen, dort hatte es Streit gegeben, und er war im Handgemenge zu Tode gekommen.«
»Das wäre eine glaubhafte Erklärung. Doch Bischof Ord-gar behauptet, man hätte ihn mit Gift betäubt, und er soll auch den ganzen Tag danach bewusstlos gewesen sein. Und Abt Cadfan erklärt, man habe ihn zu Ordgar gebeten und dann im Gemach niedergeschlagen.« Der Mönch rieb sich die Stirn. »Da gibt es noch eine andere Sache, die mir unverständlich ist und mir Angst macht. Am Morgen, an dem ich erfuhr, was Abt Dabhoc zugestoßen war, ging ich in seine Kammer und wollte seine Sachen zusammenpacken. Aber dort war alles durchwühlt.«
»Durchwühlt?« Fidelma beugte sich vor. »Wäre es möglich, dass Angehörige der Abtei dort nach Beweismaterial gesucht haben, das hätte helfen können, den Mord an Abt Dabhoc aufzuklären?«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Bruder Gillucan entschieden. »Der Verwalter der Abtei, Bruder Chilperic, hatte schon begonnen, erste Nachforschungen anzustellen, war aber nicht vor mir in Abt Dabhocs Kammer gewesen. Überhaupt war dort nichts mehr, was dem Abt gehört hatte. Bruder Chilperic beschuldigte mich sogar, ich hätte alles weggeschafft, und wollte unbedingt meine Hände sehen.«
»Deine Hände . warum das?«, fragte Fidelma. Gillucan zuckte die Achseln. »Er redete so was wie, wer die Kammer durchwühlt und Sachen an sich genommen hat, muss sich dabei verletzt haben, es gäbe dort Blutspuren.
Er durchsuchte mich, fand aber nichts und musste einsehen, dass ich es nicht gewesen war, hat aber dennoch gründlich in meiner Kammer herumgeschnüffelt, um sicherzugehen.« Fidelma machte sich kurz den Sachverhalt klar. Dabhocs Kammer wurde an dem Morgen ausgeräumt, an dem man auch in dem Gemach, in dem er ermordet wurde, alles auf den Kopf gestellt hatte. Wie hing das zusammen? Das eine musste mit dem anderen zu tun haben.
»Mir gegenüber hat Bruder Chilperic nichts davon erwähnt.
Liegt deine Zelle in der Nähe der Kammer des Abts? Hast du etwas gehört, als dort jemand herumstöberte?«
»Meine Zelle liegt am nächsten Gang. Da konnte ich nichtshören.«
»Ist über diese Durchsuchungen sonst noch etwas gesagt worden? Hat man nachgeforscht, wo die verschwundenen Sachen geblieben sind? Ist es denkbar, dass ein eifriger, aber irregeleiteter Bruder gemeint hat, die Abtei braucht die Kleidungsstücke nicht, und da hat er sie an sich genommen?« Es war durchaus üblich, die Kleidung von verstorbenen Mönchen unter den Armen zu verteilen.
Bruder Gillucan schüttelte den Kopf. »Man hatte nicht nur die Kleidung entwendet. Alles war verschwunden.« »Was heißt alles?«
»Geld, das der Abt bei sich hatte, um die Kosten für unsere Reise zu bestreiten. Briefe vom Bischof von Ard Macha an verschiedene Würdenträger, die steckten in einem Bücherranzen zusammen mit seinem Messbuch. Außerdem einige Geschenke ... darunter ein ganz besonderes.« Er schlug sich mit der Hand auf den Mund und blickte geradezu verschwörerisch um sich. Erwartungsvoll schaute Fidelma ihn an. »Dieses besondere Geschenk ... was hatte es damit auf sich?«
Der Klosterbruder flüsterte nur noch. »Abt Dabhoc war von Bischof Segene damit betraut worden, Seiner Heiligkeit eine kostbare Gabe zu übermitteln.«
»Dem Bischof von Rom?«, fragte Fidelma erstaunt. »Vi-talianus hat zu diesem Konzil einen Beauftragten entsandt, der den persönlichen Segen des Heiligen Vaters überbringt.«
»Soviel ist mir bekannt. Und das von Ard Macha mitgebrachte Geschenk sollte diesem Gesandten überreicht werden, damit er es nach Rom mitnimmt?«
»So war es gedacht.«
»Willst du damit sagen, Abt Dabhoc hat dieses Geschenk dem Gesandten nicht gegeben ... ich meine, bevor die Sachen gestohlen wurden?«
»Ja. Die Gabe sollte erst am Ende des Konzils in einer Schenkungszeremonie überreicht werden.«
»Und welcher Art war das Geschenk?«
»Das habe ich nie genau erfahren.«
»Was genau hast du erfahren?«
»Die Gabe befand sich in einem Reliquiar. Abt Dabhoc trug es in einem besonderen Beutel und ließ es während der ganzen Fahrt nicht aus den Augen. Einmal habe ich einen Blick davon erhaschen können. Es war ein mit Metall beschlagenes Kästchen, mit Einlegearbeiten verziert und mit Edelsteinen und Halbedelsteinen besetzt.«
»So, wie du es beschreibst, kann ich es mir gut vorstellen.
Unsere Gold- und Silberschmiede sind berühmt für wunderbare Kunstwerke dieser Art. Ein Reliquiar dürfte besonders heilige Reliquien enthalten.«
Bruder Gillucan war sich unsicher. »Das vermute ich auch, aber beschwören könnte ich es nicht. Abt Dabhoc hat mir gegenüber nie von dem Kästchen und schon gar nicht von seinem Inhalt gesprochen.«
»Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, was dich so in Angst und Schrecken versetzt.«
»Dazu komme ich gleich. Doch noch einmal zu dem Kästchen. Bestimmt hat es jemand in der Mordnacht mitgehen lassen. In der darauffolgenden Nacht wurde meine Zelle ebenfalls durchsucht.«
»Du hast mir schon erzählt, dass Bruder Chilperic darauf bestand, deine Zelle zu durchsuchen.«
»Nein, jemand hat noch mal alles durchwühlt.« »Ist dabei etwas verschwunden?«
»Nichts.«
»Wirklich gar nichts?«
Er verneinte.
»Dann war es nicht Bruder Chilperic, der nur sichergehen wollte, dass er nichts übersehen hatte?«
»Ich habe ihn befragt. Er war es nicht.«
»Und der Abt hatte dir nichts zur Verwahrung anvertraut, das man hätte finden wollen?«
»Nein, nichts.«
»Sonderbar«, überlegte Fidelma laut. »Wonach mögen die in deiner Zelle gesucht haben? Das Geld hatten sie schon und auch das Reliquienkästchen.«
»Ich weiß es nicht, Schwester. Ich spüre nur, überall in den dunklen Ecken der Abtei sind Augen, die einen beobachten, die abwarten.«
»Und das macht dir Angst?«
»Nicht nur das. Es gibt noch mehr, was mir unheimlich ist.« »Dann halte mit nichts hinterm Berg. Aus halben Geschichten kann ich mir kein Bild machen.«
»Richtig angst und bange wurde mir erst zwei Nächte spä ter. Ich wachte in meiner Zelle auf. Es war dunkel. Ich spürte, jemand beugte sich über mich, eine Hand hielt mir den Mund zu, und gegen den Hals drückte eine scharfe Klinge.« Gespannt setzte sich Fidelma auf. »Und weiter?«
»Eine Stimme sagte: >Wo ist es?<, und die Hand ließ los, damit ich antworten konnte.«
»Wo ist es?«, wiederholte Fidelma.
»Genau so. Ich sagte: >Ich weiß nicht, was du meinst.<« Bruder Gillucan drehte vorsichtig den Kopf zur Seite und deutete auf einen dünnen roten Strich am Hals. Die Wunde war nicht tief und heilte schon ab, war aber noch deutlich zu erkennen. Ganz offensichtlich stammte sie von dem Messer.
»Das war die Antwort. Ich schrie los: >Bring mich nicht um, bloß weil ich nichts weiß. Sag, worum es dir geht, dann kann ich vielleicht helfen.< Die Stimme sagte: >Hat es dir dein Herr und Meister gegeben?< Und ich .«
»Herr und Meister? In welcher Sprache hat der Eindringling gesprochen?«
»In Latein. Das ist die Sprache, in der wir uns hier alle verständigen.«
»Und was hast du ihm geantwortet?«
»Ich nahm an, er meinte Abt Dabhoc, und habe erwidert, dass er mir nichts übergeben hätte. Auch könnte ich ihm nicht helfen, seine Kammer sei völlig leer geräumt.«
»Was passierte dann?«
»Der Druck mit dem Messer wurde stärker. Ich schrie erneut los, ich könnte nicht helfen, er sollte sich erbarmen und mich leben lassen. Ich bin sicher, der Mann, der mich aufs Bett drückte, hätte mir die Kehle durchgeschnitten, wenn da nicht noch jemand gewesen wäre. Aus dem Dunkeln hinter ihm hörte ich eine andere Stimme. >Lass ihn. Der weiß offenbar wirklich nichts.< Der mich gepackt hatte, brummte: >Du tust gut daran zu schweigen; lässt du etwas verlauten, kommen wir wieder, ganz heimlich, still und leise.< Ich hörte sie hinaus gehen, lag lange wach und wusste nicht aus noch ein.« »In welcher Sprache haben die miteinander geredet?« »Immer in Latein.«