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»Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung?«

»Ganz einfach. Wenn das Kästchen bereits in ihrem Besitz war, nachdem sie Dabhocs Kammer geplündert hatten, warum sollten sie dann Gillucans Zelle durchsuchen und mitten in der Nacht wiederkommen, ihn mit dem Messer bedrohen und mit der Frage >Wo ist es?< ängstigen.«

»Und du glaubst, mit >es< war das Reliquiar gemeint?« »Was denn sonst?«

»Doch dann stehen wir vor dem nächsten Rätseclass="underline" Wer hat das mysteriöse Kästchen an sich gebracht?«

»Oder hat es Abt Dabhoc an so sicherer Stelle versteckt, dass es nun niemand findet?«, überlegte Eadulf laut.

»Müssten wir nicht noch einmal seine Kammer absuchen?«

»Das müssten wir. Dennoch bleibt die Frage, hat diese Sache mit dem Mord zu tun, oder ist es reiner Zufall? Außerdem, wenn entweder Ordgar oder Cadfan in den Mord verstrickt sind - warum hätten sie dieses Reliquienkästchen haben wollen?«

»Wäre doch nicht das erste Mal, dass weltliche Reichtü-mer oder das Bestreben, ein religiöses Heilszeichen zu besitzen, Glaubensbrüder in Versuchung gebracht hätten.« Fidelma gab ihm darin recht, wollte sich aber mit der Antwort nicht zufriedengeben. »Wir wissen nicht, wie wertvoll das Reliquiar ist. Das dürfte davon abhängen, wessen Reliquien in dem Kästchen sind. Bruder Gillucan hat zwar einen Namen genannt, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Heilige im Kirchenkalender einen besonderen Rang hatte.«

»Wie war doch gleich der Name?«

»Auf dem Kästchen soll Benen gestanden haben.«

Eadulf überlegte. »Benen. Viele, die sich einer Klostergemeinschaft anschließen, nehmen diesen Namen an in dem Glauben, dann ein besonders gottgefälliges Leben führen zu können. Auf der Hohen Medizinschule Tuam Brecain hatte ich einige Mitstudenten, die so hießen. Und .« Plötzlich saß er kerzengerade. »Meinst du etwa Benen mac Sesenen von Midhe?«

Fidelma schaute verwundert auf. »Den Nachfolger von Patrick?«, fragte sie.

»Ja, genau den. Mit seinem Werk dürftest du vertraut sein. Er war einer der drei Kirchenoberen in der aus neun Männern bestehenden Gesetzeskommission. Sie schufen den Senchus Mor, die große Gesetzessammlung, der die Brehons so ungeheuren Wert beimessen.«

»Benen«, wiederholte sie. Er war der Lieblingsjünger Patricks, sein Koadjutor in Ard Macha, er hatte sogar eine Biografie Patricks verfasst. »Natürlich Benen, der ist es!« Sie schwiegen kurz.

»Weshalb wollte der Bischof von Ard Macha die Reliquien des heiligen Benen nach Rom senden?«, fragte sich Fidelma halblaut. »Während seines irdischen Lebens hat er Ulaidh oder Midhe nie verlassen, warum werden seine Überreste nun dorthin gegeben? Mit fehlt da der Zusammenhang.«

Eadulf zuckte die Achseln. »Die Frage kann ich leider auch nicht beantworten.«

Es klopfte an der Tür, und Abt Segdae trat herein.

»Man hat mir gesagt, du wolltest mich sprechen, Bruder Eadulf. Ich war in einer Beratung mit einigen Äbten aus Armorica.«

Fidelma berichtete ihm, vor welchen Schwierigkeiten sie gegenwärtig stünden.

»Ich dachte, Bischof Leodegar hat allem ausdrücklich zugestimmt«, sagte der Abt verdrossen. »Du wirst wohl recht haben. Er hält in seiner Gemeinschaft die Zügel derart straff in der Hand, dass sich niemand, nicht einmal sein Verwalter, wagt, etwas ohne seine unmittelbar Anweisung zu tun.« Er atmete tief durch. »Sobald er zurück ist, werde ich mit ihm reden und darauf bestehen, dass er für alle unmissverständlich klarmacht: Ihr könnt befragen, wen ihr wollt, wann ihr wollt und wo ihr wollt.« Mit Nachruck fügte er hinzu: »Einige Delegierte spielen mit dem Gedanken, an dem Konzil nicht teilzunehmen. Man tuschelt bereits, auf dem Konzil läge ein Fluch.«

Fidelma sah den Abt erstaunt an. »Läge ein Fluch? Dass Geistliche zu so einer Wortwahl greifen, ist ungewöhnlich.«

Der Abt von Imleach nickte schwermütig. »Mir ist bange vor den Ergebnissen dieses Konzils, wenn es denn stattfindet. Ich habe mich mit vielen unterhalten und mit einigen ernsthaft beraten, wie ich eben schon sagte. Die Gallier, die Britannier und die Leute in unseren fünf Königreichen sind nicht gewillt, diese neuen Ideen aus Rom ohne weiteres zu übernehmen.«

Fidelma lag daran, das Thema zu wechseln, und sie fragte unvermittelt: »Wenn du mit Abt Dabhoc zusammen warst, hat er dir gegenüber von einem Geschenk gesprochen, das er mitgebracht hatte und dem Nuntius übergeben wollte, damit er es nach Rom mitnimmt?«

»Was für ein Geschenk?«, fragte Abt Segdae verwundert.

»Mir gegenüber hat er davon kein Wort gesagt.«

»Dann sprich bitte zu niemandem darüber«, bat ihn Fidelma. »Wir nehmen an, es war ein Reliquiar ... mit den Reliquien des heiligen Benen, Patricks Jünger und Mitstreiter.«

»In Imleach wissen wir längst, dass Ard Macha bestrebt ist, die Oberhoheit über alle fünf Königreiche zu erlangen, und wir haben uns dem stets widersetzt«, erklärte Abt Segdae. »Auch ist uns bekannt, dass die Bischöfe von Ard Macha an die Bischöfe in Rom geschrieben haben, um sich deren Unterstützung zu sichern. Vielleicht ist dieses Geschenk ein weiterer Versuch, um in Rom Rückhalt zu finden.« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Es ist doch traurig, dass selbst unter Glaubensbrüdern der Mensch nach Macht strebt und sich politischer Mittel bedient.« Eindringlich schaute er Fidelma an. »Willst du etwa sagen, es gäbe einen Zusammenhang zwischen Dabhocs Tod und dieser Angelegenheit?«

»Das behaupte ich nicht . noch nicht«, erwiderte sie. »Mir wäre lieb, dass darüber nicht gesprochen wird.« »Darauf gebe ich dir mein Wort. Hast du mit Dabhocs Kämmerer gesprochen? Ich habe vergessen, wie er heißt, aber der könnte etwas wissen.«

»Ich habe mit ihm gesprochen . Doch, bitte, auch darüber kein Wort.«

»Ganz wie du es wünschst.«

Von fern hörte man eine Glocke läuten.

Erschreckt schaute der Abt hoch. »Tempusfugit. Das ist das Abendläuten. In der Abtei werden des Tages Mühen beendet, und ein jeder bereitet sich auf die Abendmahlzeit vor.« Für die Gäste aus den fünf Königreichen war damit das Zeichen für ihr tägliches Bad gegeben, das sie jeweils vor dem Abendessen nahmen. Der Abt entschuldigte sich eiligst und verließ sie.

Erneutes Glockenläuten kündigte die Abendmahlzeit an. Man traf sich im Refektorium wieder. Bruder Gillucan saß in sich gekehrt und nervös am Tisch. Fidelma schaute ihn aufmunternd an, sagte aber kein Wort über ihre Begegnung, und auch er schwieg. Abt Segdae wartete, bis das Dankgebet gesprochen, das Mahl vorüber und allen der Abendsegen erteilt war, dann ging er zu Bischof Leodegar. Nach einem kurzen Gespräch kamen Bischof und Abt zu Fidelma und Eadulf herüber, die auf sie warteten.

»Ich muss mich entschuldigen, Schwester Fidelma, meine Anordnungen sind falsch ausgelegt worden. Ich werde dafür Sorge tragen, dass meine Weisungen ordnungsgemäß befolgt werden. Dir steht es natürlich frei, zu kommen und zu gehen, wie du willst. Nur beachte bitte meinen Wunsch, angemessen und wohlüberlegt vorzugehen.«

»So habe ich unsere Übereinkunft durchaus verstanden«, entgegnete Fidelma würdevoll. »Ich war mir sicher, dass Bruder Chilperic lediglich übereifrig war.«

Bischof Leodegar schien verlegen. »Ja, dem war wohl so. Doch muss ich bekennen, ich verstehe nicht, warum es dir notwendig erscheint, Äbtissin Audofleda zu konsultieren.«

»Bei der Untersuchung eines Verbrechens ist es schwierig vorherzusagen, wohin die Wege einen führen«, erwiderte Fidelma aalglatt. »Vielleicht in eine Sackgasse, vielleicht in eine Nebenstraße, vielleicht auch nirgendwohin. Oft muss man seinen Eingebungen folgen.«

»Nun gut, ich werde Äbtissin Audofleda eine Nachricht senden und sie auffordern, dich zu empfangen. Vielleicht morgen früh?« Man merkte seiner Stimme an, dass ihm das Ganze wenig behagte und er gern mehr gewusst hätte. Mit einer Verbeugung bezeugte Fidelma ihr Einverständnis.