Der Bischof wartete noch einen Augenblick, nickte ihnen kurz zu, drehte sich um und verließ sie.
In der Nacht weckte Fidelma ihren Mann. Der blinzelte ins Kerzenlicht und brummelte: »Ist doch noch alles dunkel!« »Und deshalb genau richtig, um eine Sache nachzuprüfen ... Du weißt schon, worum’s geht.«
Eadulf stöhnte. »Soll ich wirklich den Geistern nachspüren, die Bruder Gillucans Einbildung entsprungen sind?« »Hast du selbst vorgeschlagen. Such das necessarium und sieh zu, was man dort feststellen kann. Ich glaube zwar nicht, dass du etwas findest, aber man darf nichts unversucht lassen.« Unwillig stieg er aus dem Bett und zog sich die Kutte über. »Aurora Musis amica«, spöttelte sie und sah ihm zu.
»Morgenstunde hat Gold im Munde«, sagt man wohl auch, erwiderte Eadulf unfroh.
»Wo du langgehen musst, weißt du?«, fragte sie, während er die Kerze nahm und zur Tür schritt.
Er drehte sich um und schalt sie, nun schon wieder besserer Laune. »So unbedarft bin ich gar nicht. Dir ist vielleicht aufgefallen, dass ich nach der Abendmahlzeit einigen Brüdern gefolgt bin, die fast im Geschwindschritt den Gang hinuntereilten. Die haben mir den Weg gewiesen.« »Wie konntest du wissen, wohin die wollten?«, wunderte sich Fidelma.
»Wenn du Männer siehst, die derart laufen, nachdem sie einiges getrunken haben, erklärt sich das von selbst.« Und grinsend rief er ihr zu: »Bin bald wieder da.«
Zum necessarium für die Klosterbrüder führte ein Gang an einer Abteimauer entlang, die zugleich die Stadtmauer im Süden bildete, wie es Eadulf vorkam. Er eilte durch die Korridore und hielt achtsam die Talgkerze vor sich. In diesem abgelegenen Bereich war die Beleuchtung spärlich, anders als in den Gastquartieren.
Ihn schauderte, während er die enge Wendeltreppe zum Untergeschoss hinunterschlich. Unten blieb er stehen und lauschte, bevor er den düsteren Gang betrat, an dem der Gemeinschaftsabort lag. Er ging hinein, schloss die Tür hinter sich, hielt die Kerze hoch und schaute sich um. Er befand sich in einem großen, fast quadratischen Raum, mit einem langen Steintrog in der Mitte. Das Wasser darin funkelte und kräuselte sich im Kerzenlicht. Das war die Waschgelegenheit. Der Fußboden war gefliest, und an den Wänden sah er Reihen von Marmorsitzen; Trennwände dazwischen gab es nicht. Jeder Sitz hatte ein Loch, das ins Dunkel gähnte. Von unten hörte Eadulf das Rieseln und Plätschern eines Wasserlaufs. Offensichtlich floss dort ein Bach. Ein jeder konnte sich auf einem der Sitze niederlassen, seine Notdurft verrichten und sich dann zum Waschbecken in der Mitte begeben. Wer hierher kam, um seine täglichen Waschungen vorzunehmen, war nie allein. Ea-dulf musste an die öffentlichen necessaria denken, die er in Rom erlebt hatte.
Garstiger Geruch drang aus den offenen Sitzgelegenheiten. Er schnüffelte, unangenehm berührt, und versetzte sich in die Lage des bedauernswerten Bruders, der dort hinuntermusste, um den Ablauf freizumachen, falls er einmal von den Exkrementen seiner Mitbrüder verstopft sein sollte. Angewidert verzog Eadulf das Gesicht und bemühte sich, diesen Gedanken zu verdrängen.
Er stellte sich neben die Waschrinne in der Mitte des Raums und lauschte, doch abgesehen vom Rieseln des Wassers unter den Sitzen vernahm er nichts. Einen Moment wartete er, ging dann langsam an den Sitzreihen an der Mauer entlang und blieb immer wieder stehen. Plötzlich hörte er einen dumpfen Schrei, er fuhr zusammen, das Herz schlug ihm bis zum Hals, doch dann begriff er, es war der klagende Ruf einer Eule. Hoch oben gab es zwei offene Fenster, der Vogel musste daran vorbeigeflogen sein. Behutsam schritt er weiter. Nein, Schreie von Seelen in grässlicher Qual gab es nicht. Eadulf kletterte sogar hinten auf die Marmorsitze, presste das Ohr an die Wand und horchte angestrengt. Nichts drang durch das Mauerwerk, weder dämonische Schreie noch klägliches Wimmern. Geradezu enttäuscht seufzte er auf und stieg wieder hinunter. Dann betrachtete er die Fenster und die Tür und versuchte sich klarzumachen, in welchem Winkel der Abteigebäude sich der Raum befand. Sein Blick glitt wieder über die Wand mit den Sitzen, an der er eben gelauscht hatte, und ihm ging auf, das musste die Trennmauer sein zwischen dem Bereich der Klosterbrüder und dem domus feminarum, dem Frauenhaus. Ein letztes Mal leuchtete er mit der Kerze alles ab, ging zur Tür und öffnete sie.
Vor ihm stand eine Riesengestalt. »Bruder Eadulf!«
Er trat einen Schritt zurück und konnte mit Müh und Not sein Erstaunen verbergen.
»Was machst du hier?«, fragte jemand.
Die Gestalt hielt eine Laterne hoch, und Eadulf erkannte den Verwalter der Abtei, Bruder Chilperic.
Rasch hatte er sich gefasst. »Eine seltsame Frage, Bruder«, erwiderte er harmlos. »Was tut man wohl in einem necessarium?«
»Zu dieser Stunde? Im hospitia ist doch eine latrina.« »Nicht jedem ist es gegeben, die Regungen seines Körpers zu beherrschen, schon gar nicht nach dem Genuss von Getränken ... «. Eadulf zuckte die Achseln. »Ich wollte Schwester Fidelma nicht stören. Deshalb schlich ich hinaus, ohne sie zu wecken, und wollte es den Brüdern gleichtun, da ich gesehen hatte, wohin sie gingen. Nur hatte ich mich verschätzt, der Weg hier herunter war länger, als ich dachte.« Er grinste. »Euer Wein ist von harntreibender Wirkung.«
Bruder Chilperic schien wenig überzeugt.
Doch Eadulf nutzte rasch die Gunst der Stunde und fragte: »Was ist eigentlich hinter der Mauer, Bruder Chilperic? Als ich da saß, hatte ich den Eindruck, jemand weinte und greinte.«
Der Verwalter blickte ungläubig drein. »Nichts weiter, lediglich die Arbeitsräume des domus feminarum. Doch um diese Zeit ist dort niemand, vielleicht war es eine Katze, die du gehört hast.«
»Ah ja. Das wird es gewesen sein. Aber ganz schön frisch hier. Lass mich durch, ich will ins Bett und weiterschlafen.«
Der junge Mann zögerte, trat dann aber beiseite. »Möge nichts deinen Schlaf weiter stören, Bruder.«
Eadulf war sich nicht sicher, ob das sarkastisch gemeint war. Steif erwiderte er: »Und möge auch dir heute Nacht noch ein wenig Ruhe beschieden sein.« Er eilte zurück ins Gästequartier, wo ihn Fidelma schon ungeduldig erwartete.
»Hast du etwas entdecken können?«
»Nein, aber ich wurde entdeckt«, berichtete er, warf seine Kutte ab und ließ sich aufs Bett fallen. Zuerst erzählte er ihr von der Begegnung mit Bruder Chilperic, dann beschrieb er ihr die Räumlichkeit, die er inspiziert hatte.
Sie überlegte eine Weile, nicht jedoch, weil sie der unerwartet aufgetauchte Verwalter bekümmerte. »Wenn Bruder Gillucan etwas Beunruhigendes gehört hat, als er dort saß, könnte das von dem Wasserlauf gekommen sein, mit dem der Unrat vom necessarium fortgespült und irgendwohin befördert wird.«
Eadulf hatte bereits die Augen geschlossen. »Nehme ich auch an«, murmelte er schon halb im Schlaf.
»Es ist möglich, dass Geräusche wie ein Echo in dem Abwasserkanal klingen«, redete Fidelma weiter.
»Schon möglich«, antwortete er und gähnte.
»Und die Mauer da . Du sagst, die grenzt an das Frauenhaus der Abtei?«
Ein leises Schnarchen war die Antwort. Eadulf war bereits eingeschlafen. Ungehalten runzelte sie die Stirn, blickte dann auf den Schläfer, musste lächeln, beugte sich über ihn und blies die Kerze aus.
Eadulf hatte das Gefühl, er hätte kaum geschlafen, als die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster drangen, ihm übers Gesicht glitten und er blinzeln musste. Fidelma hatte sich bereits gewaschen, saß am Tisch und aß Obst als ihr erstes Frühmahl. »Steh schon auf und mach dich fertig. Ich habe dich sogar die Morgenandacht verschlafen lassen. Wir haben heute viel zu tun«, rief sie ihm zu, da sie sah, dass er wach war.