Er rollte sich aus dem Bett, fühlte sich aber immer noch erschöpft. »Können wir mit der Arbeit nicht später anfangen?«, wehrte er sich.
»Können wir nicht.«
Bald danach gingen sie die Treppe zur Vorhalle hinunter. Doch kaum hatten sie die ersten Schritte getan, da tauchte Bruder Chilperic auf und hastete die Stufen nach oben, die Stirn voller Sorgenfalten. Mit einem Ruck blieb er stehen und sah Eadulf scharf an.
»Ich suche Abt Segdae«, sagte er. »Ist er noch im Gästequartier? Habt ihr ihn gesehen?«
»Nein«, erwiderte Fidelma. »Du siehst so erregt aus, Bruder. Ist etwas passiert?«
Der Verwalter hob unschlüssig die Schultern. »Ich muss ihn nur von etwas in Kenntnis setzen, schließlich ist er jetzt der ranghöchste Delegierte aus eurem Land.«
Fidelma wurde hellhörig. »Kann ich in irgendeiner Weise nützlich sein?«
»Leider nein. Du kennst wahrscheinlich Bruder Gillucan, er war der Begleiter von Abt Dabhoc. Er wollte heute früh zu seiner Heimreise aufbrechen.«
Fidelma hätte beinahe den Fehler begangen und verraten, dass sie ihn kannte, doch eingedenk des Versprechens, das sie Bruder Gillucan gegeben hatte, ihr Gespräch für sich zu behalten, meinte sie leichthin: »Vielleicht kann man ihm dabei behilflich sein?«
»Nicht mehr nötig.«
Fidelma überlief es kalt. »Nicht mehr nötig? Was soll das heißen? Erklär dich, bitte.«
»Wahrscheinlich ist er noch in der Nacht aufgebrochen, ohne jemandem etwas zu sagen. Heute früh trieb er im Atuvaros ... Das ist der Fluss, der vor der Stadt nach Norden fließt. Vermutlich haben ihn Räuber überfallen, sie haben ihn völlig entkleidet. Er hatte sich eigentlich einer Gruppe Pilger anschließen wollen, die vorhatten, sich vormitttags auf die Heimreise zu begeben.«
»Bist du sicher, dass er die Abtei verlassen hat, um auf eigene Faust loszuziehen?« Fidelma konnte es nicht unterlassen, wenigstens diese Frage zu stellen.
»Was sonst hätte er zur Nachtzeit außerhalb der Abtei treiben sollen? Sowie ich davon erfuhr, bin ich in seine Kammer gegangen. Alle seine Sachen waren weg. Da liegt das doch nahe.«
»Und du meinst, er hat sich allein auf den Weg gemacht?« Fidelma erinnerte sich, dass Bruder Gillucan beabsichtigte, die Rückreise in einer Gruppe zu unternehmen.
Bruder Chilperic nickte bekräftigend. »Nur sein Leichnam wurde gefunden. Kein anderes Opfer weit und breit. Das lässt doch keinen anderen Schluss zu. Allein zu reisen in diesen unruhigen Zeiten, ist einfach unklug«, kommentierte er. »Keinen Faden haben sie ihm am Leibe gelassen und ihm die Kehle durchgeschnitten.«
»Und niemand hat etwas bemerkt?«, fragte Eadulf.
»Du hast doch gesehen, der Fluss ist außerhalb der Stadtmauern. Man verlässt die Stadt nicht mitten in der Nacht, und die Abtei verlässt man nachts schon gar nicht.«
»Bist du sicher, dass er das gemacht hat?«, fragte Fidelma hartnäckig. »Dass er die Abtei in der Nacht verlassen hat, um seine Heimreise anzutreten? An den Stadttoren gibt es doch Wachen. Haben die ihn aus der Stadt gehen sehen?« »Er hat die Abtei vor der Morgendämmerung verlassen. Gesehen hat ihn dabei niemand«, behauptete Bruder Chil-peric ungeduldig. »Kurz nach Sonnenaufgang hat ein Fischer ein Stück stromabwärts die Leiche entdeckt.« »Sobald wir Abt Segdae begegnen, werden wir ihn von dem tragischen Vorfall in Kenntnis setzen und auch, dass du ihn deswegen hast aufsuchen wollen«, erklärte Fidelma, die merkte, dass sie der Sache bereits zu große Aufmerksamkeit schenkten. »Könntest du uns noch sagen, in welcher der Kammern Abt Dabhoc gewohnt hat?«
»Die ist leer. Da findet ihr nichts mehr«, erwiderte der Verwalter und war mit seinen Gedanken schon woanders.
»Aber wo befindet sie sich?«
»Oben im Gästequartier . an demselben Gang wie Bischof Ordgars Gemach ... von seiner Tür gesehen die dritte Zelle.«
Fidelma bedankte sich, doch Bruder Chilperic eilte bereits davon. Kaum war er außer Hörweite, stellte sie fest: »Bruder Gillucan fürchtete um sein Leben, und nun ist er tot.«
»Glaubst du, das hat in irgendeiner Weise mit dem Tod von Abt Dabhoc zu tun?«, fragte Eadulf.
»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Hast du den Blick bemerkt, mit dem dich Bruder Chilperic bedacht hat?«
»Er hegt vielleicht einen Verdacht, weil er mich im necessarium angetroffen hat. Vermutlich war das etwa zu der Zeit, als Bruder Gillucan sich auf- und davonmachte. Aber hat Gillucan nicht gesagt, er wollte sich einer Pilgergruppe anschließen?«
»Hat er. Wir sollen jedoch all das lieber für uns behalten«, flüsterte Fidelma, »bis wir genau wissen, hat der Mord mit der Sache zu tun, der wir ursächlich nachgehen, oder waltet hier ein bloßer Zufall. Wir dürfen uns nicht selbst in Gefahr bringen. Wenn Gillucan die Abtei vor dem Morgengrauen aus lauter Angst verlassen hat, dann haben ihn die, vor denen er sich fürchtete, umgebracht.«
»Bloß warum? Das will mir nicht in den Kopf.« »Womöglich steckt mehr hinter dem Mord an Abt Dabhoc und nun auch an seinem Kämmerer als lediglich der Streit zwischen Ordgar und Cadfan. Wonach haben diejenigen gesucht, die Dabhocs Kammer geplündert haben? Nach dem Reliquienkästchen? Und wenn dem so ist, warum haben sie es nicht gefunden? Wer hat es jetzt? Und war es das, was man von Gillucan erfahren wollte, als man ihn in seiner Zelle bedrohte? Zu viele Fragen auf einmal, Eadulf. Zu viele Fragen und nicht genug Fakten.«
»Da gebe ich dir recht. Was unternehmen wir als Nächstes? Sollten wir uns umtun, ob Näheres über Bruder Gil-lucans Tod herauszubekommen ist?«
»Gegenwärtig nicht. Falls es da einen Zusammenhang mit der Ermordung Dabhocs gibt, würden wir unsere Gegner nur warnen, dass wir etwas vermuten.«
»Also was dann?«
»Werfen wir einen Blick in das Zimmer von Abt Dabhoc, ehe wir uns unserem ursprünglichen Vorhaben zuwenden, mit Äbtissin Audofleda zu sprechen. Jetzt wissen wir immerhin, dass Dabhoc nicht weit gehen musste, bevor er dem Tod in die Fänge geriet. Seine Kammer liegt am selben Gang wie Ordgars Gemach.«
Abt Dabhocs Kammer war leer, auch hatte man sie gründlich gesäubert. Es gab nirgendwo eine Nische, in der man ein Reliquiar hätte verstecken können. Fidelma schaute sich um und murmelte enttäuscht. »Der Raum hier bringt uns nicht weiter.«
Hinter ihnen hustete jemand. Im Türrahmen stand der mürrische Bruder Benevolentia. »Habt ihr vielleicht mich gesucht? Meine Kammer ist hier in der Nähe.«
Fidelma begrüßte ihn. »Eigentlich nicht. Wir wollten uns nur in Abt Dabhocs Kammer umsehen.«
»Kann ich irgendwie behilflich sein?«
»Wir haben erfahren, dass sein Raum in der Nacht, in der man ihn ermordete, durchwühlt wurde. Du hast wohl nichts davon gehört?«
»Ich hab dir ja schon gesagt, ich habe nichts von dem vernommen, was sich in Bischof Ordgars Gemach zugetragen hat, weil ich so fest schlafe. Erst als Bischof Leodegar und sein Kämmerer mich weckten, begriff ich, was los war«, beteuerte Bruder Benevolentia.
»Kennst du Abt Dabhocs Kämmerer?«, fragte ihn Fidelma.
Er verneinte.
»Wo seine Zelle ist, weißt du wohl auch nicht?«
»Ich kenne ihn nicht, aber seine Zelle ist auf der linken Seite an dem Gang hier. Es ist gleich die erste Tür, ich glaube nicht, dass er gerade drin ist. Allerdings habe ich vor einer Weile gesehen, wie Bruder Chilperic dort herauskam. Klopft doch einfach an.«
»Nein, er ist .«, begann Eadulf, schwieg aber, sowie er Fidelmas Blick auffing.
»Nein, du hast recht. Er wird nicht da sein«, bog Fidelma die Sache ab. »Aber wenn eure Zellen so nah beieinander sind, musst du ihn doch kennen.«
»Ah, jetzt verstehe ich, was du meinst. Ich dachte, du wolltest wissen, ob ich ihn persönlich gut kenne. Ich weiß bloß, dass er zu einer der Delegationen aus fernen Ländern gehört. Näher kenne ich ihn überhaupt nicht. Wir grüßen uns nur im Vorbeigehen, wie es sich gehört.« »Besten Dank für deine Hilfsbereitschaft, Bruder Benevolentia.«