Выбрать главу

Weiter unten an der Auffahrt blieben sie an dem verriegelten Tor stehen, und Eadulf warf noch einmal einen Blick zurück auf die grauen Mauern.

»Noch nie in meinem Leben war ich an einem Ort, der eine derartige Traurigkeit ausströmt. Mir will einfach nicht aus dem Kopf, was Bruder Gillucan dir erzählt hat, ich meine das, was er gehört haben will.«

»Was bringt dich gerade jetzt darauf?«

»Er war doch im necessarium, dessen eine Mauer an das domus feminarum stößt. Und von dort hat er angeblich das Wimmern gequälter Seelen vernommen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es das Wehklagen der dort eingesperrten armen Frauen war, das er vernommen hat.«

Fast klang es wie schwarzer Humor, doch sein Gedankengang bewirkte in Fidelma helles Entsetzen. »Kinder! Ja, natürlich!«, stieß sie hervor.

Ungläubig schaute er sie an.

»Man hat uns doch schon erzählt, dass die Frauen und deren Kinder von den Mönchen hier getrennt wurden, um fortan im domus feminarum zu leben. Frauen und Kinder, von denen sich die Mönche lossagen mussten, wie es so schön hieß.«

Eadulf nickte.

»Verstehst du, was ich meine?«, fuhr Fidelma fort. »Wenn Audofleda eine so grausame Herrschaft ausübt, dann hat Gillucan vielleicht die Kinder in ihrer Not jammern hören.«

»Du glaubst, sie misshandelt die Kinder?«

In der Gesetzgebung der Brehons wurde die Misshandlung von Kindern nicht nur moralisch verurteilt, sondern auch streng bestraft. Bis zum Mündigwerden war der Ehrenpreis für Kinder ungeachtet ihrer Herkunft vom Gesetz dem eines Stammesfürsten oder Bischofs gleichgestellt -und das waren sieben cumals, was dem Wert von einundzwanzig Kühen entsprach. Insofern war es schwer vorstellbar, dass es überhaupt zu Kindesmisshandlungen kam. »Ich kann auch jetzt nur wieder sagen, wir haben es hier mit einer anderen Kultur zu tun, Eadulf. In jedem Fall werde ich der Sache nachgehen und die Wahrheit herausfinden, auch wenn ich ohne Kenntnis der Gesetzeslage und ohne Vollmacht zurechtkommen muss.«

»Wie du das machen willst, ist mir ein Rätsel«, erwiderte er. »Die Tür dort bleibt uns jedenfalls ein für alle Mal verschlossen.«

»Dann muss ich mir irgendwie anders Zugang verschaffen«, erklärte sie in aller Ruhe.

»Allein lasse ich dich nicht gehen.«

»Als Mann ausgerechnet in einem Frauenhaus unauffällig umherzuschleichen, das dürfte dir schwer fallen«, meinte sie belustigt.

Plötzlich zuckte er zusammen und zog sie in den Schatten des Torgewölbes. Verwundert wollte sie ihn zur Rede stellen, was das sollte, aber da klärte er sie schon im Flüsterton auf: »Schwester Radegund hat soeben das domus feminarum verlassen. Vorsicht, sie darf uns nicht bemerken.«

Die große Frau hastete über den Hof und weiter zum Vorplatz. Sie rannte fast, man gewann den Eindruck, als schwebte ihr Habit hinter ihr her. Die beiden Beobachter drückten sich in die Mauernische und warteten, bis sie an ihnen vorüber war. Als sie sich wieder hervorwagten, hatte Schwester Radegund den Platz schon hinter sich gelassen; sie sahen sie gerade noch auf einer Straße verschwinden, die in die Stadt führte.

»Wohin mag sie so schnell wollen?«, murmelte Eadulf. »Das werden wir gleich wissen«, sagte Fidelma entschlossen. »Komm. Wir müssen hinterher.«

Noch ehe er etwas dagegen einwenden konnte, war sie schon losgelaufen und heftete sich der Frau an die Fersen. Viele Menschen waren unterwegs, aber niemand nahm Anstoß an ihnen, und so wurden sie durch nichts aufgehalten.

Schwester Radegund eilte zielstrebig vor ihnen her, blieb nirgends stehen und schaute sich kein einziges Mal um. Das konnte ihren Verfolgern nur recht sein. Die Straßen, durch die sie lief, wurden immer enger, und schon bald umfingen sie die gleichen Gerüche, die ihnen noch von ihrer Ankunft in der Stadt her in unangenehmer Erinnerung waren. Rinnsale von Abwasser sickerten durch die Gassen, herrenlose Katzen und streunende Hunde balgten sich um die umherliegenden Abfälle.

Plötzlich bog Schwester Radegund in eine breite Straße ein, in der verschiedene Händler ihr Geschäft betrieben. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine größere Durchgangsstraße. Die Nonne verschwand in einem Gebäude, vor dem Kleidungsstücke wie zum Verkauf hingen, auch etliche Tierfelle.

»Es sieht aus wie .« - Fidelma fand nicht gleich das rechte Wort -, ». wie ein Ort, an dem eine Näherin ihre Arbeit macht.«

Vorsichtig pirschten sie sich näher heran, und Fidelma gelang es, durch die offenstehende Tür einen Blick ins Innere zu werfen. Schwester Radegund stand mit dem Rücken zur Tür, und eine ältere Frau war über einen Ballen Stoff gebeugt. Zum Glück schaute die Alte nicht zur Tür, so dass Fidelma Eadulf ein Zeichen geben konnte, ihr ein paar Schritte weiter in den tiefen Schatten zwischen den Häusern zu folgen, wo sie von der Straße her nicht gesehen werden konnten.

»Allem Anschein nach hat Schwester Radegund nur den Auftrag, Stoff zu kaufen«, stellte Fidelma enttäuscht fest. »Ich habe wohl zu Unrecht Verdacht geschöpft.« Dann wurde sie von Gesprächsfetzen auf der Straße abgelenkt, und gleich darauf klapperten Holzschuhsohlen. Fidelma wagte einen Blick um die Hausecke.

»Radegund ist schon wieder los. Die hat noch mehr zu erledigen in der Stadt. Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren.«

Mit leicht gesenktem Kopf hastete Schwester Radegund mit der gleichen Geschwindigkeit wie zuvor weiter. Fidelma und Eadulf hielten sich in gemessenem Abstand, liefen aber nach wie vor nicht Gefahr, dass die Frau sich nach ihnen umdrehte. Hinter der nächsten Ecke verschwand sie, und als sie ihr folgten, stellten sie fest, dass der große Fahrweg in einen geräumigen Platz einmündete. Auch in seiner Mitte sprudelte und plätscherte ein Zier-brunnen. Hunde taten sich an dem Wasser gütlich.

Im Schutz eines Hauses blieben Fidelma und Eadulf stehen, während Schwester Radegund quer über den mit Steinen gepflasterten Platz geeilt war und einem Gebäude am hinteren Ende zustrebte, das von einer hohen Mauer umgeben war. Am Eingangstor stand ein Riese von Mann, ein Krieger, bewaffnet mit Schwert und Speer. Er trug einen Brustharnisch, aber keine Kopfbedeckung, so dass seine Haarpracht voll zur Wirkung kam - ein blondes, fast weißes Lockengewirr, das in einen zerzausten Bart überging, der ihm bis zur Brust reichte. Freundlich nickte er Schwester Radegund wie einer guten Bekannten zu, drehte sich, ohne ein Wort zu sagen, um und klopfte mit der freien Hand ans Tor. Sie hörten es deutlich dreimal lang, zweimal kurz pochen, woraufhin sich das Tor öffnete und Schwester Radegund hineinschlüpfte. Unmittelbar danachschloss sich das Tor wieder.

Hinter ihnen vernahmen sie das Rattern von Rädern. Ein Mann kam die Straße entlang und schob einen Handkarren, der mit Eisenwaren beladen war. Er war ein stämmiger Bursche und, seiner Kleidung nach zu urteilen, irgendein Händler. Unschlüssig standen sie an der Ecke, wussten nicht recht, wohin sie ihre Schritte lenken sollten. »Habt ihr euch verlaufen?«, redete der Mann sie freundlich in der Sprache der hiesigen Gegend an, die Eadulf an sein Angelsächsisch erinnerte. Er glaubte, den Sinn der Worte zu verstehen, und antwortete in seiner Muttersprache. Zu seiner großen Überraschung ging der Mann darauf ein.

»Ich habe einige Zeit mit Landsleuten von dir verbracht. Mein Vater war Kapitän. Aber nun zu euch - habt ihr euch verlaufen?«

»Wir sind uns nicht ganz sicher, wo wir hier sind. Wie heißt dieser Platz?«

»Benignus-Platz.«

»Benignus?«, wiederholte Eadulf und glaubte, sich verhört zu haben. »Du meinst >Platz der Benignität<, der Milde Gottes?«

Der Handelsmann stellte seinen Karren ab und rieb sich die Hände, um die Durchblutung wieder in Schwung zu bringen.

»Nein, guter Freund. Der Platz ist nach Benignus benannt. Ihr seid hier offensichtlich fremd. Benignus war ein Märtyrer, er wurde heilig gesprochen. Er wurde in dieser Stadt geboren und ging dann in die alte Stadt Divio, um dort den Neuen Glauben zu predigen. Das war vor vielen Jahrhunderten. Und weil es heißt, er hätte an dieser Stelle gewohnt, trägt der Platz seinen Namen.«