Sie schaute sich kurz um. In der Kammer standen zwei Betten, doch Gott sei Dank, eines war leer. Niemand sonst war im Raum.
Sie bückte sich und rüttelte die Schlafende sanft an der Schulter. Das Mädchen wurde mit einem Ruck wach. Fidelma presste ihr die Hand auf den geöffneten Mund, um jeden Angstschrei zu ersticken. Blieb zu hoffen, Bruder Sigeric hatte recht mit seiner Behauptung, die junge Nonne spräche gut Latein.
»Sei still. Ich tue dir nichts zuleide«, flüsterte sie. »Bist du Schwester Inginde?«
Mit schreckgeweiteten Augen nickte das verängstigte Mädchen.
»Ich benötige deine Hilfe. Ich heiße Fidelma - ich bin mit Sigeric befreundet. Kennst du ihn?«
Wieder ein kurzes Nicken.
»Ich nehme jetzt die Hand weg, aber schrei nicht los.« Sie zog die Hand zurück und fuhr ruhig fort: »Ich bin hier, um Sigeric zu helfen, Valretrade zu finden. Sie hat diese Kammer mit dir geteilt. Man hat uns gesagt, sie habe sich entschlossen, diese Abtei und die Stadt zu verlassen.«
»So heißt es auch hier«, erwiderte Inginde zurückhaltend. »Sigeric glaubt das nicht.«
»Darf ich mich aufsetzen?«
Fidelma trat zurück und nahm auf dem Bett gegenüber Platz. Schwester Inginde schwang sich aus dem ihrigen, griff sich eine Kutte und legte sie sich um die Schultern. »Ich kann dich nicht richtig erkennen. Wie war doch dein Name? Fidelia?«
»Nein, Fidelma.«
»Das klingt ungewöhnlich.«
»Nicht in meiner Heimat. Ich bin aus Hibernia, wie ihr das Land nennt, weit im Westen.«
»Dann gehörst du nicht zu unserer Gemeinschaft hier?« »Ich nehme am Konzil teil.«
Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf. »Frauen sind zum Konzil nicht zugelassen .«, begann sie, hielt aber inne. »Oh, dann bist du diejenige, die der Bischof neulich beim Abendgebet erwähnt hat. Du untersuchst den Tod des hibernischen Abts. Wie ist denn so etwas möglich?«
»In meinem Land bin ich Anwältin. Bischof Leodegar hat mich bevollmächtigt, die Nachforschungen zu betreiben.« Inginde schien immer noch misstrauisch. »Wenn du die Genehmigung des Bischofs hast, warum stiehlst du dich in die Schlafkammern der Schwestern wie ein Dieb in der Nacht?«
Fidelma lachte kurz auf. »Wahrscheinlich ist das die einzige Art, an die Wahrheit zu gelangen, ohne von deiner abbatissa behindert zu werden.« Das Mädchen überlief ein Schauder. »War sie es, die euch mitgeteilt hat, Valretrade habe das domus feminarum verlassen? Stimmt das eigentlich?«
»Valretrade ist seit fast einer Woche nicht mehr hier«, bestätigte die Nonne.
»Und sie ist aus freien Stücken gegangen?«.
»So hat es uns Äbtissin Audofleda gesagt.«
Fidelma beugte sich vor, sie hatte gespürt, dass die Antwort zögerlich kam. »Und du glaubst das?«
Das Mädchen rutschte unruhig hin und her. »Warum sollte ich es nicht glauben?«, erwiderte sie vorsichtig.
»Seien wir ehrlich miteinander«, redete ihr Fidelma zu. »Erzähl mir, was du über Schwester Valretrade weißt und wie sie aus dieser Abtei verschwunden ist.«
Schwester Inginde zögerte und sagte schließlich: »Ich weiß, dass sie mit Bruder Sigeric ein Verhältnis hatte.« »Ein Verhältnis?«
»So nennt man das doch. Sie haben sich regelmäßig getroffen, aber mich ging das nichts an. Sie machten es heimlich; bloß weil ich die Zelle mit ihr teilte, habe ich natürlich die Zeichen gesehen, die sie ihm gab und die er ihr gab. Valretrade hat mir gestanden, dass sie ihn liebt.« »Hat sonst noch jemand in der Abtei davon gewusst?«
»Ich glaube nicht.«
»Und wie ist sie verschwunden? War das die gleiche Nacht, in der Abt Dabhoc ermordet wurde?«
»Während der Morgenandacht haben wir das über den Abt erfahren. Und dass Valretrade uns verlassen hat, habe ich auf dem Weg zur Morgenandacht gehört.«
»Könntest du mir schildern, was sich in der Nacht zugetragen hat?«
»Eigentlich gibt es da gar nicht viel zu schildern. In der Nacht stellte Valretrade eine Kerze auf den Fenstersims dort« - sie wies mit dem Kopf in die Richtung -, »das tat sie immer, wenn sie sich mit Bruder Sigeric treffen wollte. Als sie die Antwort in seinem Kammerfenster sah, da über den Hof .«. Inginde stockte und runzelte die Stirn beim Blick aus dem Fenster. »Oh, da drüben brennt ja eine Kerze in Bruder Sigerics Zelle. Was mag das zu bedeuten?« »Es ist ein Zeichen, das mich in die richtige Kammer leiten sollte«, erklärte Fidelma ihr. »Erzähl weiter.« »Natürlich habe auch ich seine Kerze brennen sehen. Valretrade zog ihre Schwesterntracht an und ging, um sich mit ihm zu treffen.«
»Und sie ist nicht zurückgekommen?«
Schwester Inginde verneinte.
»Sie hat all ihre Sachen hier gelassen?«
»Das war merkwürdig. Sie waren hier, als ich am Morgen hinunter in den Waschraum ging. Ich wunderte mich, warum sie diesmal so lange ausblieb. Als ich wieder nach oben kam, waren die Sachen fort. Ich nahm an, sie wäre zurückgekommen und hätte sie mitgenommen, während ich mich wusch.«
»Also hat sie das domus feminarum verlassen, ohne sich zu verabschieden, hat aber noch Zeit gehabt, um der Äbtissin ein paar Zeilen zu schreiben?« Wie stark Fidelma das bezweifelte, war ihrer Stimme anzumerken.
Schwester Inginde zuckte die Achseln. »Eine andere Erklärung kann ich mir nicht denken.«
»Wann hast du erfahren, dass sie die Klostergemeinschaft für immer verlassen hat?«
»Beim Mittagessen. Da hat Schwester Radegund mir gesagt, dass Valretrade eine Mitteilung hinterlassen hat und fort ist.«
»Wie lange kennst du Valretrade schon?«
»Seit ich hierher kam, das war vor einem Jahr.«
»Und du hast immer diese Kammer mit ihr geteilt?« »Von Anfang an«, bestätigte die Schwester.
»Es muss dir doch merkwürdig vorgekommen sein, dass sie fortgegangen ist, ohne dir auch nur ein Wort zu sagen. Hat dir nicht zu denken gegeben, dass genau zu der Zeit der Abt ermordet wurde?«
»Uns wurde gesagt, der Tod des Abts habe nichts mit Valretrade zu tun.«
»Hat Schwester Radegund dir gezeigt, was Valretrade geschrieben hatte?«
Wieder ein verneinendes Kopfschütteln.
»Hast du sie gebeten, es dir zu zeigen?«
Schwester Inginde musste kichern. »Man stellt Schwester Radegund keine Fragen und der Äbtissin erst recht nicht.« Damit hatte Schwester Fidelma Erfahrung. »Hat sie angedeutet, warum sie sich gerade in jener Nacht mit Sigeric treffen wollte?«
»Ist das nicht klar, Schwester? Sie liebten einander.«
»War das alles? Gab es keinen anderen Grund?« Fidelma merkte, dass ihr Gegenüber unsicher wurde. »Nun rede schon. Irgendwas muss es gegeben haben.«
»Sie war nur so anders. Ich fand, sie war irgendwie erregt, als sie an dem Abend hereinkam. Irgendetwas beschäftigte sie. Ich bin sicher, sie hatte etwas gehört oder gesehen, das sie ... >verstörte< - genau das Wort suchte ich, etwas, das sie verstört hatte. Ich fragte sie, was los sei, doch sie wollte sich dazu nicht äußern.«
»Bist du nicht auch der Meinung, dass sie mit dir oder Si-geric darüber gesprochen hätte, falls sie die Abtei aus freien Stücken verlassen wollte?«
»Ich habe gedacht, sie hatte sich mit Sigeric verständigt und sich plötzlich entschlossen, gemeinsam mit ihm das Kloster zu verlassen. Dass dem nicht so war, merkte ich erst ein paar Tage später. Da kam Sigeric zum Frauenhaus und erkundigte sich nach ihr.«
Fidelma zog die Brauen zusammen. »Ich dachte, Schwester Radegund war die einzige, die von Sigerics Nachfrage an der Pforte des domus feminarum wusste.«
»Ich war zufällig in der Nähe der Pforte und habe das Gespräch mit angehört.«
»Und da hast du gar keinen Verdacht geschöpft?«
Das Mädchen gab sich unbeeindruckt. »Valretrade stammt aus Autun. Ihre leibliche Schwester lebt hier. Sie hätte ja zu ihr gegangen sein können, um einen Zeitpunkt abzuwarten, zu dem sie sich mit Sigeric verständigen konnte. Mehr weiß ich nicht.«