»Ich fürchte, unser Gastgeber gibt sich der trügerischen Hoffnung hin, dass diese beiden einen Waffenstillstand schließen für die Dauer des Konzils«, meinte auch Seg-dae. »Nicht nur die Kämpfe zwischen den Britanniern und den Sachsen werden für Zündstoff sorgen, viel eher noch die Ideen aus Rom. Die Franken und die Sachsen haben sich dafür entschieden - und wir müssen jetzt gegen sie Stellung beziehen. Diese Debatten dürften sich zu neuen Feindseligkeiten zuspitzen.«
»Was die Franken und die Sachsen in ihren Ländern tun, kann uns gleich sein«, erwiderte Abt Dabhoc verdrossen. »Wir haben unsere Glaubenslehre und unsere Liturgie. Was auf diesem Konzil beschlossen wird, gilt für uns ebenso wenig wie die Beschlüsse, die in Whitby verabschiedet wurden.«
Damit war Abt Segdae keineswegs einverstanden. »Erst hatten wir Whitby, und nun kommt dieses Konzil in Au-tun. Unsere Glaubensvorstellungen und unsere darauf beruhenden Gebräuche werden allmählich von der neuen Denkweise aus Rom unterwandert, mir passt das ganz und gar nicht. Über die Jahre haben Synoden oder Konzile wie dieses hier die ursprünglichen Grundsätze des Glaubens verändert oder mit Zusätzen versehen, so dass die Lehren der Gründungsväter kaum noch zu erkennen sind.«
Abt Dabhoc nahm das mit Befremden auf, doch Segdae redete unbekümmert weiter: »Genauso ist es. Selbst über den Tag, an welchem Unser Herr das Martyrium erlitt, sind wir mit Rom mehr als einmal in Streit geraten. Hat nicht sogar unser Columbanus darüber mit dem Bischof von Rom gestritten?«
»Das stimmt schon. Doch selbst in Ard Macha denken wir darüber nach, ob es nicht günstiger wäre für die Christenheit, das Osterfest an einem für alle verbindlichen Termin zu feiern.«
»Wichtiger scheint mir, das Fest in Wahrheit zu feiern, als über Nebensächlichkeiten zu diskutieren«, murmelte Abt Segdae.
»Wenigstens wird sich dieses Konzil nicht mit Kalendern und Terminen für die großen Feierlichkeiten befassen, sondern mit dem Bekenntnis zu unserem Glauben und damit, wie wir in den klösterlichen Gemeinschaften ein gottgefälliges Leben führen. Ich jedenfalls sehe den Debatten voller Erwartung entgegen«, schloss Abt Dabhoc. Erstmals ließ Abt Segdae ein kurzes Lächeln über seine ernsten Züge gleiten. »Lebhaft dürften die Debatten gewiss werden, so wie unsere Brüder aufeinander losgegangen sind«, scherzte er.
Sie blieben im Gang der hospitia oder Gastquartiere stehen, wo jedem Würdenträger eine eigene Kammer zugedacht worden war.
»Wie ich höre, sind deine Berater noch nicht eingetroffen?«, fragte Abt Dabhoc, ehe sie sich trennten.
Wieder blickte Abt Segdae ernst und auch bekümmert drein. »Sie haben sich allein auf die Reise begeben und müssten schon seit Tagen hier sein.«
»Die See kann sich sehr stürmisch gebärden, und die Überfahrt ist ohnehin schon lang, bevor man das Festland erreicht. Dann kommt noch die Reise flussaufwärts dazu. Wen erwartest du? Ihr habt in Muman bedeutende Gelehrte.«
»Fidelma von Cashel hat eingewilligt, uns bei den rechtlichen Fragen zu beraten, ehe wir den Beschlüssen zustimmen - das heißt zu prüfen, ob sie mit dem Gesetzwerk des Fenechus vereinbar sind.«
Abt Dabhoc war freudig erstaunt. »Fidelma? Ihren Namen pfeifen die Spatzen von den Dächern in den fünf Königreichen, besonders seit sie Anfang des Jahres den Mord am Hochkönig aufgeklärt hat. Nur, einen Mord aufzuklären ist eine Sache, doch abzuwägen, wie die Beschlüsse dieses Konzils die Gesetze und Gebräuche in den fünf Königreichen berühren, ist etwas gänzlich anderes.« Plötzlich musste er lachen. »Wenn unsere britannischen und sächsischen Freunde sich weiter in den Haaren liegen, könnten wir ihr vielleicht sogar einen neuen Mord bieten.«
Das fand Abt Segdae nicht sehr spaßig. »Mit dergleichen sollte man nicht scherzen, mein lieber Bruder. Nachdem ich gemerkt habe, was in dieser Abtei vorgeht, mache ich mir Vorwürfe, sie überhaupt gebeten zu haben, mich zu begleiten.
Doch es wird spät. Uns bleibt vor der Abendmahlzeit kaum noch Zeit, unser Bad zu nehmen.«
Jemand rüttelte ihn. Er vernahm eine Stimme, die ihn eindringlich anrief. Abt Segdae wurde vollends wach und blinzelte ins Licht der Kerze in einer Laterne, die jemand über ihn hielt.
»Bischof Leodegar schickt mich, du musst sofort kommen!« Abt Segdae suchte die schemenhafte Gestalt des Mönchs zu erkennen, der ihn aus tiefstem Schlaf gerissen hatte. Es war noch dunkel im Zimmer und recht kalt.
»Was gibt es denn?«
»Bischof Leodegar hat gesagt ...«, begann der andere. »Ich habe dich schon verstanden«, erwiderte der Abt un richtete sich mühsam auf. »Was ist passiert?«
Der Mönch schien erregt. »Kann ich dir nicht sagen . du sollst gleich mitkommen.«
Mit einem Seufzer schwang sich der Abt aus dem Bett und warf sich seine Robe über. Wenige Minuten später folgte er dem Mönch durch den dunklen Flur.
»Wohin gehen wir, oder kannst du mir auch das nicht sagen, Bruder ... Bruder ...?«:
»Bruder Sigeric.«
»Wo bringst du mich hin?«
»Zum Quartier des sächsischen Bischofs. Bischof Ordgar.« »Wieso das?«
»Ich hab von Bischof Leodegar nur den dringenden Auftrag, dich dorthin zu begleiten.«
Abt Segdae schnaufte gereizt. Er begriff, weitere Auskunft würde er nicht erhalten.
Es dauerte gar nicht lange, bis sie vor einer Kammer waren, deren Tür weit offen stand. Bruder Sigeric bedeutete ihm einzutreten. Der Anblick, der sich dem Abt bot, ließ ihn auf der Schwelle verharren. Ein Mönch beugte sich über eine Gestalt auf dem Boden. Er erkannte sofort, dass es sich um Abt Cadfan handelte. Cadfan stöhnte; das gab Abt Segdae wenigstens die Gewissheit, er lebte, Gott sei Dank. Dann sah er Bischof Leodegar neben einem zweiten auf der Erde Liegenden stehen, der gleichfalls geistliche Gewänder trug.
»Bischof Ordgar?«, fragte er knapp. »Hat Cadfan ihn etwa erschlagen?«
Hinter der offenen Tür hörte man es stöhnen.
Abt Segdae machte einen Schritt hinein in den Raum und schaute zum Bett. Dort lag wie leblos Bischof Ordgar von Canterbury. Verwirrt wandte sich der Abt wieder Bischof Leodegar und dem zweiten Mann am Boden zu.
»Ich fürchte, das ist dein Mitbruder, Abt Dabhoc von Tu-lach Oc«, sagte Bischof Leodegar langsam. »Deshalb habe ich dich holen lassen, Bruder. Abt Dabhoc wurde ermordet.«
KAPITEL 2
»Da wären wir!« Clodio, der ältere, muskelbepackte Schiffer nahm eine Hand von der Ruderpinne und zeigte nach vorn, als das Frachtboot zwischen Bäumen und Kalksteinböschungen um die Biegung des breiten Flusses glitt. Seine beiden Fahrgäste im Welldeck horchten auf, und ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm zum Ufersaum.
»Ist das Nebirnum?«, fragte die Nonne. Ihrem Habit nach stammte sie aus dem Land Hibernia. Sie war von stattlicher Statur, eine angenehme schlanke Erscheinung mit leuchtenden Augen, wenn Clodio sich auch nicht recht entscheiden konnte, ob sie nun blau oder grün waren. Ihre Farbe schien je nach Stimmung zu wechseln. Unter der Kapuze drängten sich widerspenstige Strähnen rötlichen Haars. Von Anfang an war sie dem Schiffer als eine attraktive Frau aufgefallen. Wenn sie sich mit ihrem Begleiter, einem etwa gleichaltrigen angelsächsischen Klosterbruder, unterhielt - einem stämmigen Mann mit dunkelbraunen Augen und ebensolchen Haaren -, geschah das mit so zwangloser Selbstverständlichkeit, dass Clodio sich zunächst darüber gewundert hatte. Die beiden hießen Fidelma und Eadulf, und der Bootsführer hatte bald bemerkt, dass sie Eheleute waren, denn sie sprachen oft von einem Kind, das sie hatten daheim lassen müssen, als sie diese Reise antraten.