»Uns ist zu wenig über Gräfin Beretrude bekannt. Kann sein, sie ist weder großherzig noch besonders fromm. Was wir jedenfalls nicht tun dürfen, ist, andere mit unseren Maßstäben zu messen.«
Fidelma hatte schon eine Antwort auf der Zunge, als ein lauter Trompetenstoß die Luft durchschnitt. Alle Köpfe fuhren herum.
Aus der Villa traten etliche Personen und blieben auf den Stufen der Veranda stehen, von wo man den Garten mit den dort versammelten Gästen überblicken konnte.
Der Trompeter setzte sein Instrument ab. Auf den unteren Stufen hatten zwei Krieger in voller Rüstung Stellung bezogen. Zwei andere, festlich gekleidete und jugendlich wirkende Männer machten Bischof Leodegar Platz, der eine hochgewachsene Dame in mittleren Jahren neben sich hatte. Oben an der Treppe verharrte das Paar kurz, und der Trompeter rief: »Gesandte, begrüßen wir Gräfin Beretrude!«
Hoheitsvoll trat die Frau einen Schritt nach vorn und schaute auf die unten versammelte Menge. Man klatschte höflich. Fidelma fasste sofort eine Abneigung gegen sie. Vielleicht lag es an der übertrieben dick aufgetragenen Schminke auf dem blassen Gesicht, dem unnatürlichen Rot der Lippen, den roten Flecken auf den bleichen Wangen, den schwarzen Linien, die die Augen betonen sollten, oder an den Augen selbst - kalt, von einem hellen Blau und gleichsam ohne Pupillen. Das gelockte Haar war schwarz, aber auch das Schwarz wirkte nicht echt. Gräfin Beretrudes Gesicht war hager, und die lange Nase unterstrich die Herablassung, mit der sie ihre Gäste betrachtete. Jetzt trat auch Bischof Leodegar einen Schritt nach vorn, stand so auf der gleichen Höhe mit ihr und bot ihr kurz über Taillenhöhe die linke Hand. Beretrude reichte ihm die rechte und ließ es sich gefallen, die Stufen hinabgeführt zu werden. In dieser Pose stolzierten sie zwischen den Gästen durch den Garten, wobei ihr Leodegar nacheinander die Gesandten vorstellte.
»Sie sieht zu dir herüber«, flüsterte Eadulf.
Auch Fidelma hatte bemerkt, dass die Gräfin wiederholt in ihre Richtung geschaut hatte und dann Leodegar etwas zumurmelte, der sie daraufhin zu ihnen herübergeleitete. »Das ist Fidelma von Hibernia, Schwester eines Königs dort«, erklärte er ihr. »Königreich Mu-ohn oder so ähnlich.«
Die Aussprache des Namens kam der richtigen einigermaßen nahe.
Gräfin Beretrude musterte Fidelma angelegentlich von Kopf bis Fuß, als hätte sie es mit einem noch nie gesehenen exotischen Wesen zu tun.
»Die Schwester des Königs von ... Ich vermag eure fremdländischen Namen nicht auszusprechen. Aber Hi-bernia, davon habe ich gehört. Soll am Ende der Welt liegen und von Wilden bewohnt sein, die wegen der Kälte dort ein erbärmliches Dasein fristen.«
Eadulf presste die Lippen zusammen und befürchtete einen Wutausbruch von Fidelma. Doch sie antwortete beherrscht und mit steinerner Miene: »Weder von Wilden noch von einem erbärmlichen Dasein kann die Rede sein, Gräfin.«
»Ach was, nach dem, was ich gehört habe, sind die Menschen in Hibernia Kannibalen und obendrein Vielfraße. Die halten es sogar für ehrenhaft, ihre toten Väter zu verspeisen und mit ihren Müttern und Schwestern Geschlechtsverkehr zu haben!«
Eadulf stöhnte entsetzt auf ob einer solchen Verunglimpfung, aber Fidelma war nicht zu erschüttern.
»Beretrude«, fing sie an und vermied in der Anrede die Höflichkeitsform, »dass du Strabo lesen kannst, ehrt dich. Ich hätte nicht gedacht, dass Frauen in eurem Kulturkreis Griechisch können, aber dein Grad der Sprachbeherr-schung scheint ausgezeichnet zu sein. Meiner, fürchte ich, kann es mit deinem nicht aufnehmen, doch ich erinnere mich sehr gut, dass Strabo ausdrücklich darauf verwiesen hat, dass er zu solchen Feststellungen kommt, ohne jemals in meinem Land gewesen zu sein und dass es ihm an zuverlässigen Zeugen mangelte. Er gab zu, seine Bemerkungen einzig und allein von Gerüchten über Kannibalismus bei den Skythen herzuleiten.«
Gräfin Beretrude kniff erbost die Augen zusammen, als sie begriff, dass Fidelma nicht so leicht zu beleidigen war. »Selbstverständlich muss man sich davor hüten, sein Wissen nur aus einer Quelle zu beziehen«, sagte sie kalt und giftig. »Pomponius Mela hatte auch nicht gerade eine hohe Meinung von deinem Volk und hielt es für unkultiviert und bar aller Tugenden, auch ginge ihm jeder Sinn für Treue und Pflichterfüllung ab.«
»Ich muss dich abermals beglückwünschen, wie gut du die lateinisch schreibenden Autoren kennst und auch die Griechen, die dem alten Römischen Reich dienten«, betonte Fidelma in aller Freundlichkeit. »Schade ist nur, dass keiner von ihnen, die zu ihrer Zeit, und das ist ja nun schon lange her, Autoren waren, die etwas galten, Hiber-nia aus eigener Anschauung gekannt hat. Sonst wäre ihnen aufgegangen, dass es nichts bringt, sich auf das Gerede anderer zu verlassen. Nur gut, Beretrude, dass heutzutage kluge und gebildete Menschen sich nicht verleiten lassen, nur vom Hörensagen her Urteile zu fällen.«
Gräfin Beretrude stieg Zornesröte in die Wangen, da es ihr nicht gelang, ihre Macht über Fidelma auszuspielen. Sie öffnete den Mund, zögerte und rang sich dann doch zu einer weiteren Bemerkung durch.
»Wie ich von Bischof Leodegar höre, kennst du dich in der Rechtsprechung aus.«
»In der Rechtsprechung meines Landes«, präzisierte Fidelma. »Merkwürdig. Er sagt, die Gesandten aus Hibernia hätten verlangt, du solltest entscheiden, wer der beiden fremdländischen Geistlichen den hibernischen Gesandten getötet hätte.« Fidelma sah dem Bischof in die Augen und erklärte: »Bischof Leodegar hat mich beauftragt, in dem Mord an Abt Dabhoc von Ard Macha zu ermitteln. In meiner Eigenschaft als Anwältin bei den Gerichten unseres Landes obliegen mir oft solche Aufgaben.«
»Was du nicht sagst«, höhnte Beretrude. »Nach meiner Auffassung sollten Frauen von dergleichen die Finger lassen.« »Unerfreulich ist ein solcher Auftrag allemal, schließlich ist Mord eine unnatürliche Angelegenheit«, äußerte Fidelma ruhig. »Ist aber ein Mord geschehen, muss es jemand auf sich nehmen, den Täter ausfindig zu machen, egal ob Mann oder Frau.« Eadulf hatte den Eindruck, Fidelma hätte den Satz bewusst zweideutig formuliert, so dass offenblieb, ob sie mit Mann oder Frau den Täter oder den für die Untersuchung Verantwortlichen meinte.
Die Gräfin wollte sich noch nicht zufriedengeben, doch Bischof Leodegar, dem bei dem Schlagabtausch der beiden Frauen nicht wohl zumute war, nahm sie am Arm und führte sie fort zu anderen Gästen.
»Beliebt hast du dich bei Beretrude nicht gemacht«, stellte Eadulf fest, als auch sie sich langsam weiterbewegten.
Erst jetzt bemerkte er, wie wütend Fidelma war. Ihre Augen funkelten wie Eiskristall.
»Fürwahr, Eadulf, es gibt Momente, da könnte ich gewalttätig werden. Das eben war so einer.«
»Ich fand, du bist mit ihren Beleidigungen gut umgegangen.«
»Mit Streitlust und Dummheit kann man sich kaum abfinden, schon gar nicht, wenn die betreffende Person beides für Tugenden hält.«
Sie schaute sich um. In den Grüppchen nippte man am Wein und unterhielt sich. Aber es fiel auf, dass jedes Land für sich blieb; nur ihre eigenen Landsleute schienen etwas lockerer im Umgang mit den anderen und mischten sich unter die Britannier, Gallier und Armoricaner. Sie unterhielten sich lebhaft und mit lauter Stimme. Die Gesandten aus den fränkischen und angelsächsischen Königreichen gaben sich zurückhaltender.
Gräfin Beretrude zog gemeinsam mit Bischof Leodegar, der ihr unermüdlich die Gäste vorstellte, von Gruppe zu Gruppe.
»Da alle mit sich beschäftigt sind, sollten wir ein bisschen das Gelände auskundschaften«, schlug Fidelma vor. »Wenn es stimmt, dass einige der Frauen aus dem domus feminarum hier gelandet sind, müssen wir herausfinden, weshalb. Gräfin Beretrude danach zu fragen, hat vorläufig keinen Zweck. Ich gehe dort drüben durch die Gartenanlagen seitlich an der Villa vorbei nach hinten« - sie zeigte auf die westliche Seite -, »und du nimmst dir die andere Seite vor. Wenn uns einer der Wachposten anhält, erklären wir, wir suchten ein ... ein ...«